1. Mai 2008: Tausende in Nürnberg gegen Nazis aktiv
Stadt genehmigt Naziaufmarsch +++ Tausende stellen sich in der Nordstadt den Nationalsozialisten entgegen +++ 4000 Menschen ziehen mit der revolutionären 1. Mai-Demonstration zur Naziroute +++ Brutale Polizeiübergriffe auf AntifaschistInnen +++ Polizei überfällt Lautsprecherfahrzeug der AntifaschistInnen und zerstört die Anlage +++ Tausende BürgerInnen von der Polizei in ihren Vierteln eingesperrt, um den Naziaufmarsch zu ermöglichen +++ Die für die Genehmigung des Naziaufmarsches politisch Verantwortlichen fordern zum Wegsehen auf
Schon im Vorfeld ein Skandal
Wieder einmal hatte die Stadt Nürnberg für den 1. Mai einen Aufmarsch der faschistischen NPD genehmigt. Das ist, auch wenn Naziaufmärsche leider in vielen Teilen Deutschlands alltäglich sind, in Nürnberg immer noch ein Skandal. Nürnberg, die ehemalige „Stadt der Reichsparteitage“ war seit 1945 immer ein heißes Pflaster für Nationalsozialisten. Oft wurden in den letzten Jahren Naziaufmärsche in Nürnberg von AntifaschistInnen blockiert, wie am 14. Oktober 2006 und am 1. Mai 2005. Doch dieses Mal setzten die Stadtspitze und der Staat alles daran, ein Recht auf faschistische Propaganda in den Straßen unserer Stadt gegen den erklärten Willen der Mehrheit durchzusetzen. Obwohl bereits im Vorfeld etwa 400 Menschen gegen die städtische und staatliche Duldung von Faschisten und ihren Aufmärschen protestiert hatten, hielten die politisch Verantwortlichen an ihrem Vorhaben fest. Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) beschimpfte alle, die der Stadt vorgeworfen hatten, nicht genug gegen den Naziaufmarsch zu tun, als „Obergerechte“.
1000 Sperrgitter und mehr als 50 Straßensperrungen verwandelten drei Stadtteile in der Nürnberger Nordstadt, durch die der Naziaufmarsch laufen sollte (laut Oberbürgermeister Maly eine „unprominente Wegstrecke und Geisterstraßen“) in ein Polizeilager. U-Bahnhöfe wurden gesperrt, Buslinien eingestellt. Die BewohnerInnen dieser Stadtteile wurden somit ab den frühen Morgenstunden des 1. Mai erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Die Stadtspitze rief die so „eingesperrten“ zynischerweise noch dazu auf, die Rollläden herunter zu lassen und den Nazis „die kalte Schulter zu zeigen“. Diese Haltung spiegelte sich auch im „Protestverhalten“ des offiziellen Nürnbergs wieder. Die städtische Kundgebung fand fernab der Naziroute statt.
AntifaschistInnen, die nicht bereit waren, den Nazis am 1. Mai die Straße zu überlassen, zogen in den Nürnberger Norden, um sich den Nazis entgegen zu stellen. Mehrere Bündnisse riefen zum aktiven Widerstand auf und es kamen Tausende.
Traditionelle revolutionäre 1. Mai Demonstration: Größte antifaschistische Demonstration des Tages
Zum Auftakt der Proteste startete die revolutionäre 1. Mai Demonstration um 10:30 Uhr in Gostenhof.
Was ist die revolutionäre 1. Mai-Demo?
Die von der organisierten autonomie (OA) initiierte und einem breiten Bündnis linker Gruppen getragene revolutionären 1. Mai Demonstration existiert seit 16 Jahren. Sie stand dieses Jahr unter dem Motto „Nazis stoppen! Ausbeutung und Unterdrückung beenden! Kapitalismus abschaffen! Es gibt keine Alternative zur sozialen Revolution???
Im Aufruf zur Demonstration heißt es: „Hier in der BRD werden die Reichen immer reicher, während die Armen ärmer werden. Löhne und soziale Absicherung sinken seit Jahren, gleichzeitig steigen die Preise für Strom Heizung, Lebensmittel etc.. Daran ändert auch der so genannte Aufschwung nichts. Wir sagen: Der Kapitalismus und seine Folgen sind kein unabwendbares Schicksal. Kämpfen wir gemeinsam für eine Gesellschaft, die Ausbeutung und Unterdrückung auf den Müllhaufen der Geschichte befördert.“
Auf dem Weg schlossen sich immer mehr Menschen dem Demonstrationszug an – über 100 kamen vom 1. Mai-Fest des DGB – so dass der Zug auf mehr als 4000 TeilnehmerInnen anwuchs. Die Demo war eine bunte Mischung aus ArbeiterInnen, SchülerInnen, organisierten Linksradikalen, GewerkschafterInnen, Erwerbslosen, türkischen Organisationen, Menschen aus dem Sozialforum Nürnberg und vielen anderen.
Am Rande der Demonstration, wo ständig Flugblätter verteilt wurden, kam es immer wieder zu Sympathiebekundungen von AnwohnerInnen und PassantInnen.
Als sich die Demonstration dem Abschlusskundgebungsplatz in der Nähe der Naziroute näherte, versperrte die Polizei ohne Vorankündigung und außerhalb der Sichtweite zur Naziroute unvermittelt illegal die genehmigte Demostrecke. Empörte DemonstrantInnen ließen sich jedoch nicht einschüchtern und durchbrachen die Polizeikette.
Polizei setzt Naziaufmarsch mit brutaler Gewalt durch und überfällt Lautsprecherwagen der AntifaschistInnen
Als die revolutionäre 1. Mai Demonstration an dem angemeldeten Abschlusskundgebungsort angekommen war, versuchten viele DemonstrationsteilnehmerInnen die Absperrgitter der Polizei zu überwinden und die Route der Nazis zu blockieren. Doch Polizei-Sondereinheiten verhinderten dies durch wildes Prügeln und den Einsatz von Reizgas. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Staat und Polizei alles daran setzen, den nationalsozialistischen Aufmarsch zu ermöglichen. Kurz darauf stürmten Sondereinheiten der Polizei den vorderen Lautsprecherwagen der Demonstration, auf dem zu diesem Zeitpunkt Verletzte versorgt wurden. Sie schnitten die Kabel der Anlage durch, warfen Teile der derselben in blinder Zerstörungswut auf den Boden und prügelten auf die Menschen auf dem LKW ein. Mindestens zwei Antifaschisten mussten danach mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Weiter wurden Sanitäter von der Polizei daran gehindert Verletzte zu versorgen. Der ganze Irrsinn dieses Einsatzes wird daran deutlich, dass sich selbst am 16 Ampere-Stromkabel des Generators Schnitte befanden. Die Beamten brachten sich und andere durch das Herumschneiden am Stromkabel in Lebensgefahr. Ziel des Überfalls war es, den AntifaschistInnen ein Sprachrohr zu nehmen.
Solidarisch zeigten sich in dieser Situation einige AnwohnerInnen, die die DemonstrantInnen mit Wasser aus ihren Wohnungen versorgten, was zur Erstbehandlung bei Verletzungen durch Reizgas sehr wichtig ist.
Nach der Stürmung des Lautsprecherwagens wurde die Demonstration für beendet erklärt und die TeilnehmerInnen verteilten sich entlang Naziroute. Dabei wurde AntifaschistInnen der Zugang zur weiter nördlich, ebenfalls an der Naziroute gelegenen Kundgebung des gemäßigt linken Bündnisses „Nürnberger Bündnis gegen den NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2008“ von der Polizei verwehrt. Dieses Bündnis hatte dazu aufgerufen, die Nazis zu blockieren und konnte etwa 500 Menschen mobilisieren. Auf einen Lautsprecherwagen, auf dem auch der KZ-Überlebende Josef Jakubowicz sprechen sollte, mussten die Versammelten allerdings verzichten. Im Vorfeld war ausgemacht worden, dass der Lautsprecherwagen der revolutionären 1. Mai-Demonstration hier ein zweites Mal zum Einsatz kommen sollte – nur der war eben in der Zwischenzeit dem polizeilichen Vandalismus zum Opfer gefallen.
Breite antifaschistische Proteste und die „kalte Schulter“ des Duos Maly-Beckstein
Im Verlauf des Tages kam es zu mehreren Versuchen, die Naziroute zu blockieren und zwar aus dem gesamten Spektrum der GegendemonstrantInnen. Über die Absperrgitter kamen jedoch nur Kleingruppen und wurden dann auch sehr schnell weggetragen oder weggeprügelt.
Dennoch gab es an der gesamten Naziroute lautstarken Protest und auch die Hauptkundgebung der NPD, die etwa 1500 Nazis aus der gesamten BRD herangekarrt hatte, wurde unter Protest von etwa 4000 GegendemonstrantInnen am Rathenauplatz abgehalten. Während der dortige Polizeieinsatzleiter über Lautsprecheranlage die AntifaschistInnen zum friedlichen Verhalten aufforderte und von seinem Poesie-Album erzählte, stürmten seine Polizeieinheiten immer wieder in die Menge und schlugen auf DemonstrantInnen ein. Auch hier wurden zahlreiche NazigegnerInnen verletzt. Es kam zu willkürlichen Verhaftungen.
In der Innenstadt zeigten derweil CSU und SPD Politiker auf ihrer Bühne den Nazis die kalte Schulter. Während in der Nordstadt die Polizeisondereinheiten alles daran setzten den nationalsozialistischen Aufmarsch durchzusetzen, AntifaschistInnen schikanierten, prügelten und willkürliche Festnahmen durchführten, versuchten sich die für das skandalöse Verhalten der Polizei politisch Verantwortlichen am Hans-Sachs-Platz als wahre AntifaschistInnen feiern zu lassen. Neben Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) sprach hier der für seine rassistischen Äußerungen bekannte bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU). Gekommen waren anstatt der angekündigten 7000 TeilnehmerInnen 3000-4000 Menschen. Zahlreiche GewerkschafterInnen, auf deren Teilnahme die Veranstalter hofften, hatten mit ihren Füßen abgestimmt und sich den Demonstrationen und Protesten entlang der Naziroute angeschlossen. Den Versuch, die antifaschistischen Protest zu spalten haben sie eine Absage erteilt und Beckstein, Maly und Mittelfrankens DGB-Vorsitzenden Stephan Doll, der die Kundgebung unterstützte, die kalte Schulter gezeigt.
Bilanz des Tages
Obwohl die Polizei im Vorfeld angekündigt hatte, den Nazis nicht den Weg freiprügeln zu wollen und auch im Nachhinein von einer aufgegangenen „Deeskalationsstrategie“ spricht, ließ sie keine Gelegenheit aus, ohne Anlass oder wegen Kleinigkeiten mit brutaler Gewalt gegen AntifaschistInnen vorzugehen. 49 AntifaschistInnen wurden festgenommen, mindestens 15 Menschen erhielten blutige Platzwunden, zahlreiche wurden durch Reizgas geschädigt, darunter auch mindestens ein Fotojournalist. Selbst auf am Boden liegende Verletzte schlugen und traten die Polizeisondereinheiten ein.
Als Resultat der Polizeistrategie und der Politik der Stadtspitze und Staatsregierung konnten zum ersten Mal seit 1945 Nationalsozialisten einen Großaufmarsch in Nürnberg nahezu wie geplant durchführen. Während AntifaschistInnen sich schikanöse Kontrollen und Durchsuchungen gefallen lassen mussten, wurde bei den NPD-Anhängern laut Polizeiangaben „weitgehend auf strenge Kontrollen verzichtet“. Während Nazis, beschützt von der Polizei, ungestraft „Nieder mit der Judenpest“ skandieren konnten oder auch „Schlagt den Roten die Schädeldecke ein“, versuchten Polizeisondereinheiten offenbar, letztere Forderung schon mal umzusetzen. Erneut wurden Sonder-U-Bahnen der Nürnberger VAG auf Wunsch der Nazis zu ihrer Abreise bereitgestellt. Bei all dem ist es kein Wunder, dass Nazis sich in Internetforen bei der Stadt bedanken.
Wenn es die Absicht der Nürnberger Stadtspitze und der bayerischen Staatsregierung war, den Nationalsozialisten auch für die Zukunft den roten Teppich auszurollen, so ist ihnen das gelungen.
Dennoch war der Tag ein Erfolg für alle AntifaschistInnen, ein Erfolg für alle die sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen abfinden wollen. Erneut demonstrierten tausende Menschen für eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, für eine Welt, ohne Kapitalismus. Es wurde erneut klargestellt, dass FaschistInnen und RassistInnen mit entschlossenem Widerstand zu rechnen haben, wenn sie in Nürnberg marschieren wollen, und das, obwohl die Stadt Nürnberg alles versucht hatte, um möglichst viele Menschen davon abzuhalten, direkt gegen die Nazis zu protestieren. Auch dass der Aufmarsch der NPD nicht verhindert werden konnte, schmälert diesen Erfolg nicht. Es wird im Gegenteil deutlich, wie weit der Staat und die Stadt Nürnberg gehen muss, um die Nazis vor legitimen antifaschistischen Widerstand zu schützen. Jahr um Jahr müssen wir erleben, dass die städtischen Verantwortlichen den Erben der NSDAP ein Recht auf faschistische Propaganda in den Straßen unserer Stadt einräumen. Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich geworden, dass sich Tausende zusammenschließen und den Nazis aktiv entgegen stellen.
Über 4000 Menschen haben am 1. Mai klargestellt: Vertrauen zum Staat und seinen Institutionen ist nicht gerechtfertigt, während antifaschistischer Widerstand legitim und notwendig ist! AntifaschistIn sein heißt selbst aktiv werden.
organisierte autonomie (OA) für das revolutionäre 1. Mai-Bündnis