Alles fällt vom Himmel

Die ArbeiterInnenklasse, kein Bild aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart der Warenproduktion abseits des Glanzes der Konsumzentren. Vor gut einem Jahr veröffentlichte eines unserer Mitglieder einen Artikel im Autonomie Magazin, der sich mit dem Zustand der radikalen Linken und ihrem Verhältnis zum Proletariat und zur Produktionssphäre befasst. Da der Text seitdem leider noch aktueller geworden ist, veröffentlichen wir ihn jetzt hier.

Eine Linke, die nur noch Verteilungsfragen kennt und den Bezug zur Produktionssphäre verloren hat, hat den Bezug zur ArbeiterInnenklasse und zur Realität verloren.

Vor langer, langer Zeit kamen zahlreiche Delegierte etlicher linker “Zusammenhänge” zusammen, um – wieder einmal – die Gründung einer bundesweiten Organisation in die Wege zu leiten. Ein Teilnehmer klärte die Anwesenden darüber auf, dass der Bezug auf irgendeine ArbeiterInnenklasse nicht zweckmäßig sei, zumal es z.B. Produktionsarbeiter fast gar nicht mehr gäbe, höchstens vielleicht noch in irgendeiner Klitsche hinter Spandau. Er sagte dies, während so gut wie alles um ihn herum (abgesehen von der Luft, den Organismen usw.) von ArbeiterInnen geschaffen worden war: Der Stuhl, auf dem er saß, die Kleidung an seinem Leib, sein Laptop und das Gebäude um ihn herum, das Fahrzeug, mit dem er angereist war, die Verfügbarkeit der Energie, mit der der Saal beleuchtet wurde, die Kanalisation und die Trinkwasserversorgung, das Telekommunikationsnetz…

Es wurde sehr deutlich, dass manche Linke in einer Phantasiewelt leben, die weniger mit der Wirklichkeit zu tun hat als Mittelerde oder Entenhausen.

Sicherlich: Waren sind geronnene menschliche Arbeit – in ihnen manifestiert sich aber auch menschliches Leiden und Sterben. Im kapitalistischen Herrschaftsverhältnis ist nicht nur die Arbeit, sondern auch der Tod der einen für den Reichtum der anderen keine Nebenerscheinung, sondern fester Bestandteil des Systems. Weltweit sterben jährlich über zwei Milllionen Angehörige jener Klasse, die es einer wahnhaften linken Denkrichtung zufolge eigentlich gar nicht mehr gibt, an den direkten Folgen ihrer Lohnarbeit. Sie sterben durch tödliche Arbeitsunfälle oder an Krankheiten, die sie sich infolge ihrer Erwerbstätigkeit zuzogen.

Zwei Jahrzehnte lang stand das systematische Ausblenden der Produktionssphäre und eine entschlossene Abkehr vom Proletariat hoch im Kurs bei weiten Teilen einer akademisch orientierten Metropolenlinken. Die aggressiven Versuche, mit der “Arbeiterbewegungslinken” aufzuräumen, gingen von der idealistischen Konstruktion einer “Multitude”, welche das bisherige revolutionäre Subjekt ersetzen sollte, bis hin zur völlig hirnverbrannten Aufforderung an die ArbeiterInnen, doch endlich den Arbeitsfetisch aufzugeben und einfach Schluss zu machen mit der Arbeit. Dass all dies und auch der Aufstieg einer postmodernen Identitätspolitik mit dem Siegeszug des Neoliberalismus einherging, ist kein Zufall.

Für einige linke “PhilosophInnen” aber, die so gewitzt gegen “die Arbeit” anschrieben und für die klar war, dass die ArbeiterInnen für linke Politik verzichtbar waren, kam der Strom eben einfach aus der Steckdose und das Essen vom Lieblingsitaliener im Kiez. Diesen Intellektuellen wäre es zu wünschen gewesen, dass das Proletariat seine Tätigkeit für einige Wochen aussetzt. Eine solche Probe ihrer Thesen wäre freilich schmerzhaft oder tödlich für sie verlaufen.1

Viele der Theorien und Diskussionen (oft akademischen Ursprungs) der letzten Jahrzehnte führten zu einer “Linken”, die sich nicht nur von der ArbeiterInnenklasse verabschiedet hat, sondern sogar von der Realität. Allerdings ist es auch nicht viel realitätsnäher, sich auf eine frei erfundene ArbeiterInnenklasse positiv zu beziehen – etwa eine, die aussieht wie in Deutschland 1930 oder eine, die den Weisheiten von autonomen Kleingruppen im Wesentlichen zustimmt.

“Schließlich und endlich macht man eine Revolution mit dem, was man zur Hand hat. Wenn ihr etwas Besseres wisst, gebt mir bitte Bescheid.”

Jesús Ibáñez

Mit dem Realitätsverlust der Linken und der zersetzenden Wirkung postmoderner Ideologie einher geht oft eine unerträgliche kulturelle Überheblichkeit. Etliche Linke verachten proletarischen Geschmack und proletarische Lebensweise. Sie glauben, dem Patchwork-Bewußtsein vieler ArbeiterInnen weit voraus zu sein, denn auch wenn sie vielleicht keinen Schimmer von der Welt haben, besitzen sie doch wenigstens ein völlig geschlossenes Weltbild. Etliche Linke teilen die Perspektive (klein-)bürgerlicher Kultur, in der ArbeiterInnen als pittoreske Opfer oder als verachtenswerte Clowns vorkommen. Schon lange salonfähig (bzw. VoKüfähig) ist die genüssliche Schmähung der älteren Generation des Proletariats. Ein Großteil der Linken ist stolz auf den eigenen “Kosmopolitismus” und ignoriert nicht nur, was weltweit tatsächlich geschieht, sondern auch was vor der eigenen Nase geschieht. Bei all dem gibt es kaum einen Unterschied zwischen “radikalen” Linken und dem neoliberalen Mainstream. Man verträgt sich entsprechend gut und für einige springt eine Karriere in der neoliberalen Propagandamaschinerie heraus. Die Verachtung für das Proletariat eint eben nicht nur, sie beweist auch tatsächliche Gemeinsamkeiten.

Über ArbeiterInnen reden – nicht mit ihnen

Im politischen Diskurs sollten Argumente zählen, nicht Klassenherkunft oder “Identität”. So kann es durchaus wertvoll sein, was AkademikerInnen zu sagen haben. Dieser Artikel ist kein Plädoyer für eine exklusiv proletarische Diskussion oder eine Privilegierung der Beiträge von ArbeiterInnen. Marx war kein Bergarbeiter, Engels kein Weber und Kropotkin kein Schlosser. Es ist jedoch zu konstatieren, dass ein Großteil der “radikalen” Linken bereits einen exklusiven Diskurs führt, nämlich einen unter Ausschluss der ArbeiterInnenklasse. Ob im Stadtteil oder sogar im Betrieb: Die Linke ist oft eine, die schlicht nicht bereit ist, zuzuhören. Sie hat allerdings ein extrem hohes Mitteilungsbedürfnis. Man bekommt leicht den Eindruck, dass hier gescheiterte RevoluzzerInnen vor allem dringend Eines wollen: Aufmerksamkeit.

Zugegeben: Unsere Klasse, das Proletariat, ist insgesamt reichlich unappetitlich und gibt wenig Anlass zu Zuversicht und Hoffnung. Doch auch wenn die ArbeiterInnenklasse (zumal hierzulande) in einem so desolaten Zustand ist: So widerlich wie Kleinbürgertum oder Bourgeoisie ist sie bei weitem nicht. Unsere Klasse ist unter anderem geschwächt durch Nationalismus und Rassismus, aber im betrieblichen Miteinander wird dieses Gift oft effizienter abgeschwächt als durch (trotzdem verdienstvolle) antirassistische und antinationalistische Flugblätter.

Wenn man die Arbeiterklasse nicht kennt, kann man umso leichter fantasieren, pauschalisieren und projizieren. Der naiven Vorstellung etwa, bei Trumps proletarischen WählerInnen würde es sich einfach um vom Populismus fehlgeleitete gute Menschen handeln, die mit ein paar netten Argumenten auf die “richtige Seite” zurückgeholt werden können, steht als noch idiotischerer Zwilling die Auffassung zur Seite, proletarische Trump-WählerInnen seien einfach bösartige unverbesserliche RassistInnen. Eine kindische Linke mag Komplexität und Ambiguität nicht aushalten können, aber das Proletariat besteht aus echten Menschen mit Interessen – und mit richtigen oder falschen Antworten.

Der Papa wird´s schon richten

Bei aller verbalen Staatsferne versprechen sich – wenn man genauer hinsieht – Teile der radikalen Linken das Heil einstweilen vom ideellen Gesamtpatriarchen: Von “Vater Staat”. Wie kleine Kinder in einer Wohlstandsgesellschaft begreifen sie nicht, dass die Ressourcen von Mama und Papa endlich sind. Da sie nicht Teil des Proletariats sind und sich auch nicht für Ökonomie interessieren, übersehen sie sehr bereitwillig: Alles, was verteilt werden soll, muss erst geschaffen werden. Eine reine Umverteilungs- und Versorgungslinke setzt vielleicht noch eine hohle Phrase mit Bezug auf irgendeine “soziale Revolution” unter ihre lustigen Pamphlete, ihre Ausführungen können aber oft übersetzt werden mit: Gebt uns Geld und im Übrigen sind wir für das Gute und gegen das Schlechte!. Sie überschätzt dabei maßlos die Blödheit der ProletarierInnen. Wieviel des vom Proletariat geschaffenen Wertes den KapitalistInnen anheimfällt und wieviel bei den ProletarierInnen bleibt, ist für ArbeiterInnen eine äußerst wichtige Frage, insofern geht es bei proletarischen Kämpfen eben sehr handfest und pragmatisch um Fragen der Umverteilung, der Rechte und um Reformen. Es geht aber eher nicht um leere Versprechungen oder alberne Sprüche und es geht schon gar nicht um ein “Gesehenwerden” oder mehr “Respekt” und weniger Klassismus.2

Es geht um eine tatsächliche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage und schließlich um die Kontrolle über die Produktionsmittel.

Unterm Strich bleibt als trauriges Fazit festzuhalten:

Eine Linke, die auf die ArbeiterInnenklasse scheißt, ist eine Linke, auf die die ArbeiterInnenklasse scheißt.


1 Wie sich während der Coronakrise 2020 sehr leicht zeigen lässt, ist systemrelevant nicht unbedingt in jeder Gesellschaftsformation systemrelevant. Im “Reich der Freiheit” wird es immer noch notwendige Tätigkeiten geben, welche die Freiheit tatsächlich deutlich einschränken. Z.B. Produktion (inkl. Landwirtschaft), Logistik, Abfallwirtschaft, Bau, Versorgungswesen, Naturwissenschaften, Pflege, Medizin (Marx und Engels haben sich für den zukünftigen Kommunismus übrigens durchaus vorgestellt, dass ein Individuum sich nicht nur auf die Tätigkeit in nur einem Bereich festlegt: “In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter Anderm auch malen.” In : Die deutsche Ideologie). Um die kapitalistische Gesellschaft aufrechtzuerhalten braucht es natürlich noch ganz andere Berufe, z.B. Bänker, Hedgefond-Manager, Berufspolitikier, Soldaten und ein Heer von JournalistInnen, Kulturschaffenden und KulturvermittlerInnen, welche die herrschende Ideologie fortwährend reproduzieren.

2 Auch dies zeigt sich in der Zurückweisung der symbolischen Gesten, mit denen sich mache während der Corona-Pandemie beim Pflegepersonal z.B. durch Applaus bedanken wollen.