Als 300 Menschen in Nürnberg eine Abschiebung blockierten

Ein Beitrag des Bündnis Widerstand Mai 31 – Solidarität ist kein Verbrechen

Am 16.1.2020 wurde das letzte noch offene Verfahren im Zusammenhang mit der verhinderten Abschiebung vom 31. Mai 2017 vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth verhandelt. Wir blicken aus diesem Anlass zurück. Wie andere Ereignisse in Zusammenhang mit den Themen Abschiebungen oder Polizeigewalt ist auch der 31. Mai einem öffentlichen Kampf um die Deutungshoheit ausgesetzt. Darum zeichnen wir die Geschichte des 31. Mai hier noch einmal nach.
Am frühen Morgen des 31. Mai 2017 kommt es in Kabul zu einem der schwersten Anschläge in Afghanistan seit Jahren. Ein mit rund 1.500 Kilo Sprengstoff präparierter Abwassertanklaster explodiert im Diplomatenviertel Wasir Akbar Chan. Mindestens 92 Menschen sterben, über 400 werden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Bereits in den Monaten vor den Anschlag gab es etwa ein Dutzend Anschläge in dem Land, mit insgesamt über 400 Toten.
Einige Stunden später in Nürnberg: Der 21-jährige Berufsschüler Asif N. wird von zwei Polizeibeamten aus der Nürnberger Schule B11 am Berliner Platz geholt.

Die Polizisten wollen ein Amtshilfeersuchen durchsetzen, denn Asif soll nach Frankfurt gebracht und dort in ein Flugzeug nach Afghanistan gesetzt werden. Asif geht zunächst mit den Polizisten mit und steigt in ein Polizeiauto ein. Losfahren können die Beamten jedoch nicht, denn MitschülerInnen von Asif sind nicht einverstanden, dass ihr Schulkollege einfach so abgeschoben wird. Aus Solidarität mit Asif setzen sie sich vor das Polizeiauto und hindern es damit an der Abfahrt. Von dem Anschlag in Kabul wissen Asif und die SchülerInnen noch nichts.

In Nürnberg kommen um den blockierten Polizeiwagen immer mehr Menschen zusammen. Medien berichten über die Blockade. AbschiebegegnerInnen aus ganz Nürnberg kommen zum Berliner Platz. Wenig verwunderlich, war die besonders harte Abschiebelinie in Bayern doch in den Monaten zuvor ein heißes Thema und es gab viele Demonstrationen und Aktionen gegen diese Politik.

Als die Menschenmenge wächst, versucht die Polizei Asif in ein anderes Auto zu bringen, doch die PolizistInnen scheitern und auch das andere Auto wird rasch von sitzenden Menschen blockiert. Gegen 10:00 Uhr sind es etwa 300 Menschen, die mit der Abschiebung nicht einverstanden sind. Die Polizei hat in der Zeit eilig BeamtInnen zusammengezogen und es befinden sich 26 StreifenpolizistInnen und 25 Beamte des Einsatzzuges der PI Erlangen-Stadt sowie 2 Diensthundeführer am Berliner Platz. Mit dem Eintreffen des Einsatzzuges ändert sich die Stimmung plötzlich. Die schwarz gekleideten Einsatzgruppen gehen sofort zum Angriff über und versuchen die Sitzblockade mit Prügeln und der Anwendung von Schmerzgriffen aufzulösen. Als dies nicht gelingt, zerren PolizistInnen Asif aus dem Auto und schleifen ihn zu einem dritten Polizeiauto. Gleichzeitig, wahrscheinlich auf Kommando, greifen PolizistInnen ProtestiererInnen mit Faust-, Ellbogen und Schlagstockschlägen an, um von dem Manöver abzulenken. Es kommt zu chaotischen Szenen, die die folgenden Tage durch die Medien gehen werden. Die Polizei ist erst mal erfolgreich, es gelingt ihnen durch massive Gewalt ihr Einsatzziel durchzusetzen und Asif abzutransportieren. Auch drei solidarische BlockiererInnen werden von der Polizei festgenommen.

Im Anschluss an die Ereignisse demonstrieren die solidarischen SchülerInnen und AktivistInnen spontan zur Ausländerbehörde. Sie fordern den Stopp der Abschiebung. Mittlerweile ist auch der Anschlag in Kabul in Deutschland bekannt. Wegen diesem Anschlag wird der Abschiebeflug dann auch abgesagt. Asif bleibt in Nürnberg. Die Zentrale Ausländerbehörde der Regierung von Mittelfranken beantragt Abschiebehaft, doch mit anwaltlicher Hilfe gelingt es bereits am nächsten Tag, diesen Antrag auszusetzen.

In den Medien wird, unterstützt durch die Bilder von gewaltsamen Polizeieinsatz, schnell Kritik laut. AugenzeugInnen kommen zu Wort, wie der Referent des in der Berufsschule ausgerechnet unter dem Titel „Vielfalt und Toleranz“ stattfindenden Projekttages. Er wird in einem Zeitungsartikel zitiert: „Die Gewalt ging eindeutig von der Polizei aus. Ich habe schon viele Demos gesehen, aber dass Polizisten mit solch unverhältnismäßiger Härte gegen friedliche Schüler vorgehen, habe ich noch nicht erlebt. Das hat mich schockiert.“ Eine Redakteurin der Nürnberger Nachrichten kommentiert als Augenzeugin: „Was ich heute am Berliner Platz in Nürnberg gesehen habe, spottet jeder Beschreibung. Es erschüttert mein Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und ist einfach nur beschämend“. Auch anwesende PfarrerInnen bestätigten dies.

Es geht um die Deutungshoheit

Trotz der öffentlichen Empörung kommt es jedoch nicht zu Konsequenzen für die verantwortlichen PolizistInnen und schon gar nicht für deren Vorgesetzte. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann will sich selbstverständlich seine Abschiebepolitik von so einem eskalierten Prügeleinsatz nicht ruinieren lassen. Schnell ist klar: AbschiebegegnerInnen, da müssen ja auch linke dabei gewesen sein. Noch am selben Tag sagt Herrmann: „Wenn Gewalttäter der linksextremen Szene die Polizei angreifen und damit unseren Rechtsstaat herausfordern, muss die Polizei handeln.“ Herrmann gibt das Narrativ der Staatsregierung vor und kann sich darauf verlassen, dass trotz all der AugenzeugInnen, der Filmaufnahmen und der anfänglich kritischen Presse, dieses Narrativ das sein würde, das immer brav von den Medien aufgegriffen wird. Um die Fantasie aller nicht-Dagewesenen anzuregen zog die Nürnberger Polizei schon am 31. Mai folgendes Fazit: Neun BeamtInnen wurden angeblich verletzt, einer von ihnen soll sogar einen Zahn bei dem Einsatz verloren haben. PolizistInnen wurden nach Angaben eines Sprechers „mit Fahrrädern und Flaschen beworfen“.

Auch im Innenausschuss des Landtages ist der Einsatz etwa einen Monat später Thema: Als Beispiel für einen besonders gelungenen Einsatz nach Lehrbuch. Polizeiinspekteur Thomas Hampel tischt den Abgeordneten ein Märchen auf, bei dem diese wahrscheinlich kaum die Tränen zurückhalten können, so gutmütig und friedfertig werden einerseits von ihm die PolizeibeamtInnen dargestellt, während andererseits die Angriffe der angeblichen LinksextremistInnen als besonders hinterhältig geschildert werden. „Es wurde in den Rücken gesprungen, gegen Knie und Beine getreten, mit dem Ellbogen gegen den Hals geschlagen und mit Flaschen geworfen.“ Der verlorene Zahn hat sich allerdings glücklicherweise bis dahin schon als abgebrochener Zahn herausgestellt. Das Jammermärchen überzeugt die Abgeordneten von CSU und SPD. Die Polizei habe besonnen und wie im Lehrbuch reagiert, lassen sie sich danach zitieren. Andere Abgeordnete der Oppositionsparteien bleiben skeptisch.

Der Staat lässt seine Hunde los

Auch die Staatsanwaltschaft übernimmt 100% das Narrativ der Staatsregierung von den linksextremen GewalttäterInnen. Aus den Anklageschriften wird die Intention deutlich: Die öffentliche Ordnung sei gefährdet, durch zu viel Solidarität. Sie muss durch möglichst harte Urteile wieder hergestellt werden. Weiter sollen harte Urteile möglichst viele davon abhalten, sich der Staatsmacht überhaupt in den Weg zu stellen. Zahlreiche AktivistInnen werden vor Gericht gezerrt und mit Vorwürfen überzogen.

Die Ermittlungen gegen die Polizei werden jedoch sang- und klanglos eingestellt. AugenzeugInnen, die sich bei der Polizei gemeldet hatten, weil sie der politischen Sprachregelung der Regierung, die Gewalt sei von „Linksautonomen“ ausgegangen widersprechen wollen, werden vom LKA hauptsächlich zu den Protestierenden befragt. Über die Polizeigewalt wollen die Ermittler nichts hören. Die ZeugInnen berichten, dass sie sich vom intern ermittelnden LKA regelrecht eingeschüchtert fühlen. Am Ende kommen sie sich selbst wie Beschuldigte vor.

Gegen SchülerInnen und AktivistInnen geht der Staat mit aller Härte vor: Die Staatsanwaltschaft fordert in jedem Fall hohe Strafen und strengt in vielen Verfahren, wenn die RichterInnen den dramatisierten Vorwürfen nicht folgen wollen, Berufungen an. In den 31. Mai-Verfahren versucht die Staatsanwaltschaft massiv eine just am 30. Mai 2017 in Kraft getretene Verschärfung des Strafrechts anzuwenden. Der neue §114 Strafgesetzbuch stellt Polizisten und andere AmtsträgerInnen unter besonderen Schutz. „Tätliche Angriffe“, also z.B. schubsen, sollen nun mit mindestens einer Haftstrafe von drei Monaten geahndet werden. Damit wird der Angriff auf einen Polizisten anders bestraft als z.B. ein gesetzwidriger Angriff einer/s PolizistIn auf z.B. eine/n DemonstrantIn

Mindestens 41 Monate Gefängnisstrafe, über 950 Arbeitsstunden und über 11.000 Euro Geldstrafe kann die eifrige Staatsanwaltschaft gegen etwa ein Dutzend SchülerInnen und AktivistInnen des 31. Mai am Ende durchsetzen. Von den wilden Geschichten der Polizei und des Innenministers, vorgetragen als konstruierte Anklagen, bleibt in den Gerichtsverfahren aber insgesamt wenig übrig. Aus den „geworfenen Fahrrädern“ werden „mit Kraftaufwand geschobene“, umgekippte und als Stolperfalle herumliegende Fahrräder. Die geworfenen Flaschen werden zu einer halbvollen Plastikflasche. In den Prozessen stellt sich eher heraus, dass die meisten Angeklagten selbst verletzt wurden. Von der fantasiereichen Vorwürfen bleibt häufig nur ein angeblicher Widerstand übrig. Auf den „Beweisbildern“ sind dagegen etliche – oft ohne erkennbaren Grund – prügelnde PolizistInnen zu sehen.

Am 16.1.2020 steht im letzten noch offenen Verfahren eine AktivistIn vor Gericht. Ihr wird der „Fahrradwurf“ angelastet. Es ist bereits die zweite Instanz. In der ersten Instanz mitangeklagt war noch eine zweite Aktivistin. Sie soll eine Polizistin mit ihren Fingernägeln gekratzt haben. Doch die gekratzte Polizistin, die auch behauptet, vom Fahrrad getroffen worden zu sein, verheddert sich in Widersprüchen. Auch einen Fahrradwurf hat niemand gesehen. Auf einem Video ist ein umkippendes Fahrrad zu sehen, das gegen eine Polizistin fällt. In der ersten Instanz endet der Gerichtstermin deshalb auch mit einem klaren Freispruch. In dem Verfahren kommen durch die Befragung von PolizeizeugInnen durch die Verteidigung weitere Details an die Öffentlichkeit z.B. dass bei den eingesetzten Polizeieinheiten keinerlei Nachbesprechung nach dem eskalierten Einsatz stattgefunden hat. Die Staatsanwaltschaft geht, trotz des klaren Freispruchs, in Berufung. Kurz vor der Berufungsverhandlung zieht die Staatsanwaltschaft gegen die zweite Angeklagte, die gekratzt haben soll, die Berufung zurück. Wahrscheinlich, damit das Verfahren dadurch einfacher wird und eventuell doch eine Verurteilung herauskommt. Doch auch in der Berufung, kann die Staatsanwältin nicht nachweisen, dass es überhaupt eine Straftat in dieser Situation gab. Die Beschuldigte wird erneut frei gesprochen.

Was bleibt vom 31.Mai 2017?

Nachdem nun alle Verfahren verhandelt wurden, von denen das Bündnis „Widerstand Mai 31 – Solidarität ist kein Verbrechen“ Kenntnis hat, stellt sich die Frage, was geblieben ist, vom 31. Mai 2017. Nun ist klar, dass ein einzelnes Ereignis selten viel verändert. Aber der 31. Mai hat sicherlich eines geschafft: Er zeigte ein weiteres Mal, auch in Bayern nehmen die Menschen nicht alles hin, was der Staat durchsetzen möchte. Es musste mit Übertreibungen, Schuldzuschreibungen und Vertuschung gearbeitet werden, dass dieser Prügeleinsatz von den staatlich Verantwortlichen noch als Erfolg verkauft werden konnte. Obwohl viele Medien zunächst den Polizeieinsatz kritisierten, kippten viele dann wieder in eine der Argumentation der Regierung folgende Berichterstattung. Dann kam gar nichts mehr. Die letzten Prozesse stießen auf kein mediales Interesse, obwohl dort weiter aufgeklärt und bestätigt werden konnte, was wirklich passiert war.

Ein kurzer politischer Erfolg ist nach dem 31. Mai die vorübergehende Aussetzung von Abschiebeflügen nach Afghanistan wegen der veränderten „Sicherheitslage“. Leider nur vorübergehend. Obwohl sich die „Sicherheitslage“ nicht grundlegend verändert hat, wird bald wieder dort hin abgeschoben. 2017 werden in Afghanistan insgesamt über 2300 ZivilistInnen durch Anschläge getötet. Es ist ein trauriger Rekord, der höchste Wert seit Beginn der Zählung der zivilen Opfer durch die Vereinten Nationen. 2017 wurden 121 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben, fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor, aber nicht mal halb so viele wie 2018. Auch die Praxis, Menschen aus der Schule zu holen, um sie abzuschieben existiert noch. Ein Erfolg der Blockade vom 31. Mai ist jedoch, dass dies von der Polizei nur noch selten und ungern getan wird. Denn an den Schulen gibt es immer auch die Möglichkeit, dass MitschülerInnen und LehrerInnen nicht passiv bleiben, sondern solidarisch handeln. Aber auch verschiedene Gesetzesänderungen sorgen dafür, dass weniger Menschen, denen die Abschiebung droht, die Schule besuchen dürfen.

Für die Menschen, die sich solidarisch zeigten oder ZeugInnen der Polizeigewalt wurden, dürfte der 31. Mai meist eine wichtige Lebenserfahrung bleiben, eine von der Macht der Solidarität, aber auch eine Erfahrung der Ohnmacht gegenüber einem gewalttätigen, hochgerüsteten Staat, der nicht davor zurückschreckt etliche Menschen zu verletzen um eine politische Linie durchzusetzen. Ein Staat, der erst prügeln lässt, um dann die Opfer als GewalttäterInnen zu diffamieren und anzuklagen. Vielleicht lesen die ZeugInnen und AktivistInnen des 31. Mai in Zukunft anders die Zeitung, wenn schon die Redakteure selbst oft nur aus dem Polizeibericht abschreiben, statt selbst zu recherchieren? Vielleicht verstehen sie nun besser, wofür es einen Staat und eine Polizei gibt und wofür nicht? Vielleicht haben sie den Eindruck, das die StaatsbürgerInnen sich vor Gewalt fürchten sollen und vor allem vor der staatlichen Gewalt. Angst soll Menschen davon abhalten, ihre Rechte einzufordern. Das gilt für Erwerbstätige, SchülerInnen, Erwerbslose genauso wie für die BewohnerInnen der Lager, die der Staat errichtet hat. Die Lager, deren einziger Zweck es ist Geflüchtete gesellschaftlich zu isolieren, psychisch zu zermürben und schnell abzuschieben. Was der Staat am meisten fürchtet ist die Solidarität unter den Verängstigten. Darum schlägt er zu, wie am 31. Mai. Und darum verfolgt er die solidarischen Menschen so gnadenlos. Es ist die blanke Angst vor dem Machtverlust. Vielleicht sind wir manchmal nicht so ohnmächtig, wie wir glauben.