Basisansätze und lokale Verankerung als Weg aus der Krise – Gastbeitrag der Organisierten Autonomie Nürnberg
Veröffentlich im Lower Class Magazine
„Nehmen sie uns ein Haus, nehmen wir uns einen ganzen Stadtteil“ – so lautete Mitte der 1990er die Losung, nachdem die Stadt Nürnberg das KOMM und dessen Selbstverwaltung systematisch zerstört hatte. Das KOMM lag zentral am Hauptbahnhof und war Hotspot eines jeden linken oder alternativen Jugendlichen dieser Zeit in Nürnberg. Der Verlust traf schwer, wurde jedoch zugleich genutzt, um den Sprung raus aus dem szene-geprägten KOMM zu schaffen.
Politik im Stadtteil war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zwingend Handwerkzeug der deutschen Autonomen. Hausbesetzungen wurden eher intern getragen und die Verankerung in der Nachbarschaft stellte nur für einige Projekte dieser Zeit einen relevanten Teil ihres politischen Wirkens dar. Doch mit der zunehmenden Orientierung von Teilen der Nürnberger Autonomen an z.B. den italienischen Autonomia-Ansätzen – die in ihrer Ausrichtung basiszentriert waren und für die aufgrund der eigenen Klassenlage der gemeinsame Kampf als Klasse selbstverständlich war – fand die revolutionäre Politik verstärkt Einzug im Nürnberger Stadtteil Gostenhof.
Gostenhof war hinsichtlich der Klassenlage äußerst interessant: hohe Arbeitslosigkeit, hoher MigrantInnenanteil, günstiger Wohnraum, viele JobberInnen. Um dieser Zusammensetzung gerecht zu werden, aber auch aufgrund der eigenen sozialen Realitäten, öffnete bereits Anfang der 90er der erste Stadtteilladen in Gostenhof als Anlaufstelle für JobberInnen und Erwerbslose unter dem Namen „Schwarze Katze“ seine Pforten.
Es folgte nahezu zeitgleich die Etablierung einer eigenständigen revolutionären 1. Mai Demonstration, die im Viertel begann, endete und im internationalistischen Straßenfest ihren Höhepunkt fand. Begonnen hatte die Demo mit 150 TeilnehmerInnen. Durch kontinuierliche Aufbauarbeit, eine Bündnisarbeit, die nahezu alle Spektren an einen Tisch bringt und einem verdammt langen Atem, sind es heute jeweils zwischen 2500 und 4000 Menschen, die für eine antikapitalistische Perspektive auf die Straße gehen.
In den anderen 364 Tagen im Jahr waren und sind wir mit all unseren Themen – Antimilitarismus, Antifa, Soziale Kämpfe, Antirassismus, Feminismus – im Stadtteilbild kontinuierlich präsent: Infostände, Briefkastenverteilungen, Flyer, die extra den Bezug zum Stadtteil herstellen, Graffiti, Aufkleber, Demos durch und Kundgebungen im Viertel. Eine Aktionsvielfalt, die von der Solidarität mit den streikenden AEG-ArbeiterInnen, einer vom Stadtteil getragene Blockade eines Nazi-Aufmarsches, über eine Kampagne für ein Sozialticket im öffentlichen Nahverkehr bis hin zu den revolutionären 1. Mai-Demos reichte. All das schaffte in Gostenhof eine massive Popularität und auch eine immense Polarisierung. Die Schwarze Katze kennt jede und jeder – unabhängig davon, wie man sich dazu positioniert.
Von der Politik im Stadtteil zur Stadtteilarbeit
Stellte es schon damals eine Errungenschaft dar, sich mit dem Stadtteil und seinen BewohnerInnen kontinuierlich politisch auseinanderzusetzen und mit konsequent antikapitalistischer Politik aktiv in das Geschehen im Viertel einzugreifen, wollten wir ab dem Jahr 2014 einen Schritt weiter gehen und erweiterten die Politik im Stadtteil um die konkrete Stadtteilarbeit. Notwendig war dies vor allem aus zwei Gründen geworden: Die sozialen Verhältnisse verschärfen sich für die Mehrheit der Klasse zusehends. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors auf der einen Seite sowie der Druck, den dieser Sektor auf die „Normalarbeitsverhältnisse“ ausübt, indem das Kapital die Konkurrenz verschärft.
Angst, Spaltung und Konkurrenz sind allgegenwärtig. Viele Menschen lassen sich vom Chef lieber alles bieten, als in Niedriglohn, Ämterschikanen und Hartz IV abzurutschen. Stagnierende Einkommen sind die Folge. Auf der anderen Seite explodieren die Mietpreise. Wohnen ist Ware und spätestens seit der Krise, in der Kredite billig und unser Wohnraum zur sicheren Anlage wurde, scheint es keine Grenze für den Profit mit Wohnraum zu geben. Investition und Spekulation lohnt sich für das Kapital vor allem in den Ballunsgsräumen wie Nürnberg und auch ganz speziell in Gostenhof, wo Wohnraum billig aufzukaufen war. Zudem ist es schlichtweg unser Viertel, unsere Mieten, die steigen, unsere Plätze, von denen uns Bullen vertreiben wollen, wenn wir ein Bier trinken und alle anderen Probleme, die man in einem Stadtteil im Aufwertungsprozess haben kann.
Verdrängung und Gentrifizierung blieben zwar nicht unwidersprochen, aber all die kleinen guten Aktionen waren bis dahin unkoordiniert, vereinzelt und verpufften, da sie es in ihrer Isoliertheit nicht schafften, tatsächlich gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Um einen ersten großen Punkt zu setzen, starteten wir gemeinsam mit der Initiative „Mietenwahnsinn stoppen“, die sich rund um den Verkauf der bayerischen GBW 1 gegründet hatte, ein Mammutprojekt: Über 1000 BewohnerInnen des Stadtteils Gostenhof wurden zu ihrer Haltung zu Gentrifizierung, Ausverkauf, Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg bis hin zur Vergesellschaftung befragt.
Vorbild waren die militanten Befragungen, die schon Marx als Werkzeug im Klassenkampf als nützlich erachtete und die später von der italienischen Autonomia Bewegung in den Betriebskämpfen angewandt wurden. Das heißt, es handelte sich nicht um eine wissenschaftliche Datenerhebung, sondern um eine politische Befragung, in der die Fragen bereits Widersprüche offen legen und zum Nachdenken anregen. Die Erfahrungen der befragenden AktivistInnen waren zum weit überwiegenden Teil positiv: sie wurden in Wohnzimmer eingeladen, bekamen Essen und Schnaps, ebenso wie Einblicke in massiv beengte Wohnverhältnisse auf der einen Seite und Singles in 100qm Wohnungen auf der anderen Seite.2 Letztlich wurde die 1000-Fragebögen-Marke geknackt und die Ergebnisse konnten veröffentlicht werden. Die Presse berichtete mehrfach und die Stadt versuchte weiter zu propagieren, dass es in Gostenhof keine Verdrängung gäbe. In einer kleinteiligen Untersuchung der Wohnsituation in Nürnberg ging die Stadt auch Jahre später extra auf Gostenhof ein. Es kann als Erfolg gewertet werden, dass die sozialdemokratische Stadtspitze sich so unter Druck sah, sich verhalten zu müssen.
Aber wir wurden im Zuge der Umfrage auch auf ganz praktische Probleme der MieterInnen aufmerksam: Kaum jemand kennt seine Rechte. In Ermangelung eines kollektiven Kampfes, war es selbst für einzelne so nicht möglich, sich gegen Schikanen von VermieterInnen zur Wehr zu setzen. Wir verteilten daher die „Rechtstipps für Mietrebellen“ in alle Briefkästen des Viertels und machen gemeinsame Veranstaltungen mit den Mietvereinen. Zudem benötigten wir einen regelmäßigen offenen Anlaufpunkt für Interessierte/Betroffene und gründeten den Stadtteilclub „Reclaim Gostenhof“, der seit rund drei Jahren einmal im Monat statt findet und von widerständiger Kultur bis zum Stadtteilpicknick alles zu bieten hat. Daneben ging die alltägliche Arbeit weiter: Mietprobleme, eine kleine Kampagne gegen den Immobilienhai Vonovia etc.
Demo am 14. Juli – die soziale Frage stellen
So wichtig kleinteilige kontinuierliche Arbeit ist, so wichtig ist es auch, immer wieder Punkte zu setzen, die nach außen wirken, die nicht so leicht zu übersehen sind. Zudem sehen wir es mehr denn je als unabdingbar, die soziale Frage offensiv und radikal zu stellen – konsequente Antworten inklusive. Das Abarbeiten am politischen Gegner – egal welcher Couleur – ist auf Dauer ermüdend und frustrierend. Für weite Teile der lohnabhängigen Klasse machen wir uns dadurch auch nicht unbedingt ansprechbar. Was wir brauchen, ist eine revolutionäre Perspektive – und wir müssen Themen zusammen denken. Mit dem Motto „Auf die Straße gegen Sozialraub und Mietenwahnsinn! Mieten runter – Einkommen rauf! Kapitalismus abschaffen“ versuchen wir all die Ansprüche zu einen: sich für weite Teile der Klasse ansprechbar machen, indem man die soziale Realität der breiten Mehrheit aufgreift; eine Tagesforderung, die vermittelbar ist, sowie die logische Konsequenz aus alldem. Vergesellschaftung von Wohnraum und Produktionsmittel sind im Aufruf thematisiert und bilden die konsequente Antwort auf die soziale Frage. Wir wollen mit der Demo am 14. Juli einen Schritt nach vorne gehen – und es gehen schon einige mit. Über 20 Gruppen und Initiativen unterstützen die Demo. Das Spektrum reicht vom Motorradclub Kuhle Wampe – Geyers schwarzer Haufen, der MLPD, der Studierendengruppe SDS Erlangen-Nürnberg bis hin zu attac und der Linken Liste. Nicht zu unterschätzen sind auch die massenhaften Verteilungen, Gespräche im Vorhinein und das Setzen einer Idee: die Reaktion ist auf dem Vormarsch – dann müssen wir nach vorne gehen, unsere revolutionäre Perspektive mit der Klasse teilen, uns ansprechbar machen, Vertrauen schaffen und der herrschenden gnadenlosen Konkurrenz unsere grenzenlose Solidarität entgegenstellen! Gestärkt können wir dann wieder zurück kehren in die kleinteilige notwendige Arbeit um uns weiterhin in der Basis zu verankern und der Klasse tatsächliche Angebote des gemeinsamen Kampfes im Alltag zu machen.
# Organisierte Autonomie Nürnberg
1: Ehemals im Besitz der bayerischen Landesbank. Diese musste im Zuge der Krise ihre Immobilien veräußern und die GBW wurde unter CSU–Mann Söder inklusive Steuergeschenke an die Patritzia AG verscherbelt – bekannt für Zerstückelung, Entmietung und Ausverkauf.
2: Dass die Frage nach Vergesellschaftung des Wohnraums nicht in jedermanns Interesse ist, war daher abzusehen. Überraschend war jedoch die hohe Zahl an Vergesellschaftungswilligen Befragten. 75% sprachen sich dafür aus.