Texte gegen den deutschen Nationalismus – Teil II

Geschichtsrevisionismus

Wir haben gesehen, dass Nationalismus ein wichtiges, zentrales Merkmal der modernen kapitalistischen Entwicklung in der Geschichte ist.

Auch das Scheitern der November-Revolution 1918 und die Entwicklung hin zum Faschismus bilden unter diesem Blickwinkel einen Zusammenhang. Nicht nur die militärischen und organisatorischen Schwächen – dazu zählt der Verrat der Sozialdemokratie ebenso wie die Tatsache, dass sich gegen Ende es I. Weltkrieges noch keine starke revolutionäre Kraft etabliert hatte – der revolutionären Organisation(en) bedingten die weiteren Entwicklungen, sondern auch das inhaltlich-strategische Versagen linker Kräfte in der Weimarer Republik. Das spiegelt sich (neben der Sozialfaschismusthese) auch in den Positionen der Organisationen zum Problem des Nationalismus wider, bzw. darin, dass es um die Position Lenins keine Auseinandersetzung und Korrektur bezüglich Deutschlands gab. Auch das ermöglichte die faschistische Mobilisierung.

Rückblick

Da wird alljährlich einer – stellvertretend für seine Gefolgsleute, alles langjährige Handlanger des Kanzlers und Führers Hitler – geehrt, der am 20. Juli 1944, nach eigenem langjährigen Kriegsverbrechertreiben, ein Attentat auf Hitler versuchte: Graf Stauffenberg. Da wird einer geehrt und zum Antifaschisten ernannt, der nur um die Ehre Deutschlands besorgt war, den längst verlorenen Krieg beenden und seinem „Vaterland“ die Schmach ersparen wollte, total besiegt und bedingungslos zurück auf die alte Umlaufbahn der unterhalb der Ebene kriegerischer Auseinandersetzung konkurrierenden und auf kapitalistische Verwertung zielenden Industrienationen gezogen zu werden.

Wie einfach das ist, einen Kriegsverbrecher und Nationalisten wie Stauffenberg zum Antifaschisten zu küren! Letzteres ist ja auch nur Augenwischerei für die Leute, die glauben sollen und wollen, Deutschland heute hätte mit dem von damals nichts mehr gemeinsam, indes wissen doch die, die dem Grafen da gedenken, genau, warum sie es eigentlich tun: er wollte Deutschland „retten“!

„Stauffenberg“ ist – unter anderen – ein Thema zur Formulierung neuer nationalistischer Geschichtsschreibung. Deren Stoßrichtung wird möglicherweise aber erst deutlich durch eine kurze Untersuchung der jüngeren deutsche Geschichte:

Der aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus mobilisierte Faschismus beherbergte als zwei wesentliche Elemente des „Funktionierens“ Terror und Gemeinschaft.

Nicht nur politische GegnerInnen – wie die ArbeiterInnenbewegung samt linker Organisationen – traf der Terror. Vor allem von der faschistischen, „arischen Norm“ Ausgegrenzte, also JüdInnen, Sinti, Roma und als minderwertig angesehene Völker sowie Homosexuell und Behinderte, wurden als der Volksgemeinschaft, dem „Volkskörper“ fremd diskriminiert und der fabrikmäßigen Vernichtung zugeführt.

Die Gemeinschaft verstärkte sich bei denen, die der Norm entsprachen und die der Terror deshalb nicht traf, einerseits gerade in dieser tödlichen Abgrenzung, anderseits darin, dass im NS-Staat gesellschaftliche Widersprüche und Interessengegensätze (z.B. Klassenkämpfe, die noch in der Weimarer Republik sichtbar waren) geleugnet wurden und jeder Ansatz dazu wider der Vernichtung zukam.

Die „Volksgemeinschaft“ in Deutschland rückte um so mehr zusammen, als mit der expansiven Kriegspolitik „arischer“ Lebensraum erschlossen werden sollte und schließlich die nationalistische Identität gerade angesichts der gegnerischen Übermacht zum „totalen Krieg“ blasen lassen konnte.

Trotz der Vermutung, dass „auch Deutsche nebenbei Leute sind, denen der Verzicht auf die Nation lieber als der Untergang mit ihr sein müsste“ (W. Pohrt, konkret 3/92), war die Tatsache, dass Deutschland nur besiegt wurde und nicht untergegangen ist, eher ein (eigennütziger) Verdienst der Siegermächte. Ohne die Tendenz faschistischer Mobilisierung für andere imperialistische Staaten zu verdecken, war ein wichtiges Element der Entstehung des Faschismus in Deutschland der besondere Nationalcharakter Deutschlands. Der wiederum findet seine Ursachen in der Entstehung Deutschlands selbst und vor allem den Folgen des I. Weltkrieges.

Und nach der Niederlage?

In Vergegenwärtigung der Tatsache, dass der Faschismus kein Systemausbruch war, ist es nur logisch, „daß insgeheim, unbewußt schwelend und darum besonders mächtig, jene Identifikation und der kollektive Nazismus gar nicht zerstört wurden, sonder fortbestehen konnte“ (Adorno 1974, S. 135).

Das Ende des Nationalsozialismus war ein von außen, militärisch erzwungenes; das bedeutete aber nicht das Ende der Ursachen des Faschismus und damit der nazistischen Volksgemeinschaft, im Gegenteil: in der widerspruchslose erklärten „Kollektivschuld der Deutschen“ am II. Weltkrieg konnte die „Voksgemeinschaftlichkeit“ ohne jede weitere Auseinandersetzung um Rassenwahn und Faschismus in die Nachkriegszeit herübergerettet werden und bildeten die Basis für den Wiederaufbau. Frühe Ansätze für gesellschaftliche Alternativen in der BRD wurden zwar – anders als im NS-Staat – nicht mehr vernichtet, aber scharf repressiv geahndet. So landeten in den Fünfziger Jahren tausende von KommunistInnen in den Knästen der BRD, und mit ihnen andere Menschen, die gegen die Remilitarisierung und für ein antifaschistisches Deutschland kämpften.

Die BRD als Grenzposten zum sogenannte Ostblock steigerte mit Hilfe der westlichen Siegermächte die Produktion enorm und durch den wachsenden Massenwohlstand wurde die „Volksgemeinschaft“ auch noch um einen zusätzlichen identitätsstiftenden Mythos bereichert – um den des „Wirtschaftswunders“. Selbiges wird in der Reinterpretation zum „Beweis“ für den „Fleiß der des deutschen Volkes“ – neben der von außen auferlegten Buße für die Verbrechen des NS-Staates ist das Wirtschaftswunder das einzige bewusstseinsmäßige Verbindungslied bis Ende der 1980er in einer fortschreitend warenbeherrschten Gesellschaft. In dieser werden die letzten Winkel menschlichen Zusammenlebens und –wirkens von kapitalistischer Tauschwertlogik bestimmt und die nahezu einzige Orientierung ist, außer der am (individualistischen) „Kaufkraft-Dasein“, die an Gesetz und Ordnung.

Der Individualismus steht in der kapitalistischen Warengesellschaft nicht im Widerspruch zur nationalen Identität.

Ideologische Gemeinsamkeiten

Wer nun immer vom Schlimmsten (wie dem NS-Staat) als einmaliger Katastrophe, als „Ausfall jeglicher Vernunft“ und als teuflischem Gebilde schwadroniert, begeht am historischen Kontext Schönfärberei und vertuscht die bis zur Gegenwart reichenden Traditionslinien und Dimensionen:

Der Faschismus in Deutschland traf bei den kapitalistischen Industrienationen auf Sympathie in seinen ökonomischen und politischen Zielen. Ausbeutung der eigenen Bevölkerung und Kolonialisierung anderer Völker waren und sind allgemein imperialistischer Usus, der ausgeprägte Antikommunismus und die Verfolgung von Linken hatte und hat schon über Deutschland hinaus abendländische Tradition. Die Judenverfolgung und -vernichtung war in Konsequenz und Umfang zwar einmalig, aber mitnichten Stein des Anstoßes für die westlichen Industrienationen , gegen Deutschland Krieg zu führen. Schließlich bildete Rassismus auch dort ein wesentliches Element der Gesellschaften.

Erst als die Expansionspolitk des Nazi-Regimes den Interessen der westlichen Weltmächte 1939 quer lief, wurde dem Deutschen Reich der Krieg erklärt (als erstes von Großbritannien und Frankreich, zwei Tage nach dem Überall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939).

Nationalismus und Nachkriegszeit

Die Tatsache, dass der auf ausgrenzende Volksgemeinschaft bauende Nationalismus in der BRD nur vorhanden, nicht aber hervortretend war, erklärte sich zum Teil aus seiner (damaligen) Nutzlosigkeit angesichts der unbefriestet erscheinenden Teilung Deutschlands im Zuge des Ost-West-Konfliktes.

Systemstabilität galt den Westmächten mehr als ein „vereintes Volk“ in Deutschland ebenso dem Warschauer Pakt.

Schwerpunkt der Propaganda seitens der BRD in Richtung DDR lag deshalb auch eher auf der „Systemüberlegenheit westlicher Demokratien“, denn auf Selbstbestimmungsrecht und „Volkstümelei“ – das Thema wurde wohlwollend den faschistischen Parteien und revanchistischen Verbänden der BRD überlassen, um es ihnen dann zum geeigneten Zeitpunkt, 1989, wieder abzunehmen, Nationalismus wieder zum Programm zu machen, sprich eine politische Führungsrolle in der Welt zu beanspruchen.

Solange aber übten sich Herrschenden in der auferlegten Buße und betrieben noch darin schleichenden Geschichtsrevisionismus, der dann und wann einen Testballon nötig hatte. Ein Höhepunkt bildete schon im Mai 1985 die Ehrung gefallener SS-Schergen in Bitburg durch Kohl – ein erstes Zeichen dafür, dass der Revisionismus soweit ist, zu zeigen, dass genug Gras über die Geschichte gewachsen sei.

Wenn wir einen neuen Faschismus befürchten, ob nun einen mit zustimmender Massenbasis oder einen, der sich mit der schweigenden Mehrheit begnügt, dann dürfen wir das in der Gewissheit, dass sich die Herrschenden dennoch von der historischen Version des Faschismus wortreich distanzieren – denn er hat sein Ziel nicht erreicht.

Aus den bisherigen Ausführungen dürfte klar geworden sein, dass nationale Identität und Nationalismus kein naturwüchsigen Produkte sind, sonder historische Phänomene mit bestimmten, sich ändernden Hintergründen/Zwecken. Dabei stellt sich die Frage, wie sich Nationalismus konstruiert. Nationalismus ist dynamisch, wandelbar und eben nicht Wesenseigenschaft von Völkern, sonder ein Produkt innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen (z.B. Kämpfe um kulturelle Hegemonie).

Um das Wesen von völkischem Nationalismus und nationaler Identität erfassen zu können, reicht es nicht zu sagen, Nationalismus sei ein Wegbereiter kapitalistischer Verwertung.

Denn in ihm konzentrieren sich auch Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus und Patriarchat in einem komplexen strukturellen Zusammenhang. Angemessene Aussagen über Herrschaft lassen sich nicht über eine Summierung von Herrschaftsverhältnissen treffen. Nationale Identität (und damit verbunden die potentielle Entwicklung zum Nationalismus) tritt weltweit in unterschiedlicher Ausprägung auf. Doch weiter zum deutschen Nationalismus:

Technik des Nationalen

Ein Hinweis darauf, wie wichtig Geschichte oder Geschichtsverklärung, die Besetzung des Alltäglichen mit nationalen Symbolen den Ideologen des Nationalismus ist, gibt z.B. die Wiederaufstellung eines Replikates des „Kaiser-Wilhelm-I-Denkmals“ in Koblenz; die Szenerie ähnelte der von 1897, als das Denkmal zum ersten Mal aufgestellt wurde:

Sie [tausende Schaulustige] applaudieren und jubeln, als er [Kaiser Wilhelm] (…) auf seinem Sockel landet und nun hoch über Koblenz wieder für Deutschland reitet.“ (Süddeutsche Zeitung 3.9.1993)

Kaiser Wilhelm I. reitet wieder für Deutschland

Am 2. September 1993, dem sogenannten Sedantag, an dem sich Deutschlands Sieg gegen Frankreich in der „Schlacht von Sedan“ 1870 jährt, wurde das Replikat der Ende des II. Weltkriegs von einem US-Soldaten abgeschossenen Statue in Koblenz wiederaufgestellt.

Dennoch spielt das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte im individuellen Bereich, der dem Massenphänomen Nationalismus zugrunde liegt, nicht die ausschlagende Rolle.

Nationale Identität ist nichts, was den „Angehörigen“ des Nationalstaates abgepresst wurden muss, ebenso werden sie nicht von der „Nützlichkeit“ nationaler Identität überzeugt.

Vielmehr ist nationale Identität auch eine zwanghafte Eigenleistung der „Staatsangehörigen“, die sich von Geburt an über bestehende gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse bildet; Verhältnisse, die die Staatsmacht teils bildet, teils verwaltet. Die Interessen und Bedürfnisse der Individuen konstituieren sich im Rahmen dieser Verhältnisse, ja das ganze Dasein ist nach Gesetz und Ordnung reglementiert. Der Wunsch der Individuen, ihren Interessen nachzugeben und Bedürfnisse zu befriedigen ist innerhalb dieser Ordnung dann auch deshalb erwünscht, weil sie den kapitalistischen Verwertungsprozess dienen. Der Staat (deutlich zu unterscheiden von der Regierung) muss den Staatsangehörigen als wohlwollender Anwalt der eigenen Interessen vorkommen. Der Erfolg von Staat und Kapital wird tendenziell als Voraussetzung des eigenen Wohlergehens gesehen. Im eigenen beständigen Scheitern wird in (national-)staatlicher Logik auch eine Staatsschwäche gesehen, die einer konsequenten Lösung bedarf.

Im Fall der vollständigen nationalistischen Identifikation sind die eigenen Interessen die des Staates.

Das Phänomen moderner Industrienationen, das in der Regel mit „Vereinzelung“ oder „Atomisierung“ bezeichnet wird und bedeutet, dass sich traditionelle soziale Zusammenhänge auflösen und der zwischenmenschlichen Bereich immer mehr von kapitalistischen Dienstleistungsverhältnissen durchdrungen wird, steht in keinem Widerspruch zur nationalen Identität, die an der „Volksgemeinschaft“ orientiert ist. Das Auflösen alternativer Identitäten (z.B. Klassenbewusstsein) bewirkt im Gegenteil ein unmittelbares Verhältnis zur Staatsmacht, zum Nationalen und bringt die Subjekte in gesinnungsmäßige Bedürftigkeit, für die immer ausschließlicher das Konstrukt „Volksgemeinschaft“ verfügbar wird.

Deshalb muss, nebenbei erwähnt, jede auf radikale gesellschaftliche Umwälzung zielende Politik auch eine Aufgabe darin sehen, die Bewegung als identitätsschaffende Gesamtheit zu begreifen.

Zunächst sollte hier deutlich werden, wie nahe eine Identitätsbildung über die Nation innerhalb eines nationalstaatlichen Systems liegt. Dabei ist allerdings noch nicht alles.

Völkisch bestimmt, nationalistische Identität ist vor allem über die zwangsläufig verinnerlichten Herrschaftsverhältnisse (s.o.) eine Identität, die sich über totalitäre Abspaltungsprozesse und Hierarchisierung bildet.