Thematischer Ausgangspunkt unsere Textreihe gegen den deutschen Nationalismus ist der „Großdeutsche Feiertag 3. Oktober“, an dem sich dieses Jahr – 2012 – die Neuformierung des NS-Nachfolgestaates BRD zum „Deutschen Reich“ zum 23 Mal jährte. Vieles, mit dem sich der linksradikale Widerstand heute „beschäftigt“, hat direkt oder indirekt damit zu tun.
Unser Anspruch ist dabei nicht mehr und nicht weniger als Skizzen zu entwerfen und Aussagen zu machen, wovon wir ausgehen, wenn wir einen praktischen Ansatz, nämlich in einem organisierten Zusammenhang über erkennbare Kämpfe/Politik ein gemeinsames, radikales Verständnis von Geschichte und Gegenwart zu entwickeln, verfolgen.
Historischer Abriss
Im Allgemein wird die Entstehung des deutschen Nationalismus als Ideologie auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert, wenn auch das Phänomen schon lange vorher existiert haben mag. Er entwickelt sich und wächst in dieser Zeit auf dem Nährboden und in dem Spannungsfeld eines sozialpsychologischen Vakuums, einer Orientierungslosigkeit vieler Menschen auf Grund des Zusammenbruchs der bisherigen Identifikationsmuster, der althergebrachten dynastischen und religiösen Traditionen, auf der einen und der Erfordernisse des sich entwickelnden Kapitalismus, der sich des Hemmschuhs der Kleinstaaterei und der Willkür der Territorialfürsten entledigen muss, auf der anderen Seite. Mit der zunehmenden Industrialisierung und der damit immer deutlicher wahrgenommene Trennung von gesellschaftlicher Produktion und den Gewinnen, mit der fortschreitenden Berufsdifferenzierung und den sich zwangsläufig einstellenden Folgen wie Binnenwanderung und sich enorm vertiefender sozialer Ungleichheit gerät das gesamte politische System ins Wanken. So bedarf es der Konstruktion neuer Mechanismen zur Integration der Schichten, die objektiv kein Interesse an der Erhaltung des Status Quo haben können, einer Ideologie, die Gemeinsamkeiten jenseits der Klassengegensätze suggeriert und neue Loyalitäten schafft.
Vordenker dieser Ideologie ist die geistige Elite der immer stärker zu Herrschaft drängenden Schicht des Bürgertums, die schon lange eine ihrer ökonomischen Macht entsprechende Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen einfordert. Wissenschaftler und Schriftsteller wie J. G. Herder oder Schiller konstruieren so die Idee des Nationalstaats auf der Grundlage der gemeinsamen althergebrachten Sprache und Kultur. Anstelle des Flickenteppichs aus Kleinstaaten soll die die gesamte „Volksgemeinschaft“ umfassende Nation treten. Hatte der französische Nationalismus der Revolution seine Mission in der Verwirklichung der allgemeinmenschlichen Ziele von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gesehen (ein Anspruch, der allerdings schon in den Terrorwellen der Jakobiner und spätestens mit der Krönung Napoleons zu Grabe getragen wurde), so träumen die deutschen NationalistInnen von Anfang an einen anderen Traum: „Unser Sprache wird die Welt beherrschen.“ formulierte Schiller den frühen nationalen Konsens. Das deutsche Volk als „Urvolk“, als „ausgewähltes Werkzeug und Volk Gottes“ und als Kulturnation schlechthin habe den Auftrag, „das ihm eigentümliche Gute über die gesamte Menschheit auszubreiten und die Weltherrschaft zu übernehmen“, forderte etwas später der Philosophie-Professor Johann Gottlieb Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“.
Schon in seinen Anfangsstadium zeigen sich hier wesentliche Strukturelemente des Nationalismus: Nötig für das Nationalbewusstsein ist die Abgrenzung gegen einen gemeinsamen Feind – zu Beginn des 19. Jahrhunderts die napoleonischen Besatzungstruppen – und die daraus hervorgehende Illusion der Homogenität der Interessen der Menschen, die die Nation bilden.
Unter dem Einfluss des nationalen Pathos und der allgemeinen Hetze gegen die Franzosen („welsche Brut“) ziehen in den so genanten „Befreiungskriegen“ vor allem junge Bürgersöhne und Handwerksburschen begeistert gegen Napoleons Armeen zu Felde. Bei vielen paart sich die nationale Idee mit demokratischen Vorstellungen von allgemeinem Wahlrecht und nationalen Verfassungen. Wenn auch von einheitlichen politischen Forderungen nicht die Rede sein kann – die Vorstellungen reichen von konstitutioneller Monarchie bis zur radikaldemokratischen Republik, von Zentralismus nach französischem bis zu Föderalismus nach nordamerikanischem Vorbild – ist doch die Stoßrichtung der nationalen Idee in der ersten Hälfte des Jahrhunderts für die Zeit deutlich fortschrittlich. Sie zielt gegen die Vormachtstellung des Adels, gegen die überlieferte soziale und politische Ordnung, die nur den Herrschenden dient und die Unterdrückung und Verarmung weiter Bevölkerungskreise zementiert. Sie setzt an die Stelle der bis dahin gängigen Herrschaftslegitimation, des „Gottesgnadentums“, das Prinzip der Volkssouveränität, nach dem Entscheidungen nunmehr als Konsens der sich zur Nation bekennenden Staatsbürger zustande kommen. Dass zu diesen Staatsbürgern Frauen eben sowenig zählen sollen wie die besitz- und bildungslosen Angehörigen des „Lumpenproletariats“ verweist auf das patriarchale Fundament der Ideologie ebenso wie auf die Tatsache, dass die Bewegung in erster Linie eine des Bürgertums ist. Nach der Niederlage der Franzosen stellt sich jedoch heraus, dass die deutschen Fürsten nicht im Traum daran denken, ihre Macht einschränken zu lassen: Für sie klingen die Forderungen der nationalen Bewegung vor allem nach Aufruhr und Umsturz der bestehenden Verhältnisse, sie verbieten in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 die noch junge Deutsche Burschenschaft, verfolgen rigoros die Agitatoren der Bewegung und verfügen strikte Pressezensur und Überwachung der Universitäten.
Unter dem Eindruck der staatlichen Repression hat die nationale Bewegung des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts in erster Linie liberalen und zum Teil sogar im weitesten Sinn internationalistischen Charakter. So ziehen Freiwillige nach Griechenland und Polen, um dort die Kämpfe um nationale Unabhängigkeit zu stärken, auch bilden sich internationale Vereinigungen zur gegenseitigen ideellen und materiellen Unterstützung der liberaldemokratischen Nationalisten. Allerdings sind diese Vereinigungen nur von kurzer Lebensdauer, da sie keine Lösungsmöglichkeiten für die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts immer deutlicher zutage tretenden Rivalitäten und Interessengegensätze der verschiedenen Nationalismen bieten können.
War im Vormärz, der Zeit bis 1848, der liberale Nationalismus vor allem ein Instrument des Bürgertums, um die Modernisierung der Gesellschaft und besonders die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, so wandelte sich nach der gescheiterten 48er Revolution die Stoßrichtung sehr schnell. Unter dem Eindruck der radikalen Forderungen der Arbeiterschaft wendet sich das Bürgertum wider den alten Herren zu, und vollzieht mit ihnen die Revolution von oben. Dass diese notwendiger denn je ist, ist mittlerweile auch den Herrschenden aufgegangen: In der Revolution hat der nationale Taumel neue breite Bevölkerungskreise erfasst, die es zu integrieren gilt, vor allem aber macht die industrielle Revolution die Schaffung eines Großwirtschaftsraumes unabdingbar.
Sollte die Revolution von oben ursprünglich durch das Beamtentum getragen werden, so greift Bismarck ab 1864 zu handfesteren Mitteln und setzt ganz auf die militärische Option. Mit „Blut und Eisen“ schafft er bis 1871 das Deutsche Reich und damit auch das Gerippe des deutschen Militarismus, in dem Heer und Vaterland austauschbare Begriffe werden und das Militär zur Schule der Nationalerziehung avanciert.
Nach der Reichsgründung verliert der Nationalismus auch den letzten Hauch des Liberalismus. Er ist nun nur noch das Mittel der alten und neuen Eliten, ihre Herrschaft zu sicher und das deutsche Weltmachtstreben zu legitimieren. Dass er auch und gerade vom Kleinbürgertum gestützt wird, ist aus den Erfahrungen während der Industrialisierung nachvollziehbar, durch die sich diese Schicht von zwei Seiten in die Zange genommen sieht: Auf der einen Seite durch die Konzentration des Kapitals bei der Bourgeoisie, auf der anderen Seite durch die Entstehung und Stärkung der revolutionären ArbeiterInnenbewegung. Wieder zeigt sich in dieser Phase seine Funktionsweise: Mit dem Argument des Strebens nach einer angemessenen Stellung in der Gemeinschaft der kapitalistischen Staaten, einem „Platz an der Sonne“, wird die Bevölkerung gegen eine vorgeblich feindliche Außenwelt zusammengeschweißt und auf imperialistische Großmachtpolitik eingeschworen. Wer sich dem nicht fügt oder aufgrund (angenommener) Besonderheiten der gleichmacherischen nationalen Norm nicht entspricht, wie z.B. sich internationalistisch verstehende ArbeiterInnen, jüdische Menschen oder KatholikInnen, die sich nicht nur dem deutschen Reich, sondern auch dem Papst verpflichtet fühlen, wird ausgegrenzt, zum Reichsfeind erklärt und verfolgt. Die Tatsache, dass von dieser Ausgrenzung zum Teil Gruppen betroffen sind, die sich nach Kräften bemühen, anerkannte Glieder des „Nationalkörpers“ zu sein, z.B. Teile der jüdischen Gemeinschaften, wirft einmal mehr ein Schlaglicht auf den irrationalen Charakter dieser Ideologie. Die viel gerühmte Sozialgesetzgebung Bismarcks fügt sich dabei in die Strategie von „Zuckerbrot und Peitsche“ ein: Sie dient als Instrument, die wegen der Repression der Sozialistengesetze enger zusammengerückten und radikalisierten ArbeiterInnen zu spalten und den reformerischen Kräften unter ihnen Argumente für Veränderungen innerhalb des Systems an die Hand zu geben. Durch das immer enger werdende Geflecht von staatsbürgerlichen Pflichten und eben auch Rechten ,zu denen Sozial- und Rentenversicherungen gehören, nimmt auch die Bindung an die Nation zu. Die ständig wachsenden innenpolitischen Spannungen durch den zunehmenden Einfluss der ArbeiterInnenbewegung werden durch immer aggressivere Außenpolitik überdeckt: Rassismus wird konstituierender Bestandteil des deutschen Nationalismus, imperialistische Expansion, die Eroberung von Kolonien zur Sicherung neuer Märkte und Rohstoffressourcen, soll gleichzeitig den Eindruck der Stärke der Nation in der internationalen Konkurrenz festigen.
Innenpolitisch ist die Nation mittlerweile zum höchsten Gut aufgestiegen: Allenthalben werden nationale Denkmäler errichtet, das Vereinswesen erlebt eine neue Blüte in Sachen Schutz und Förderung des deutschen Kulturguts und immer deutlicher bildet sich ein mystischer Blut-und-Boden-Kult heraus, der nur als Religionsersatz zu verstehen ist. Wie weitreichende Bevölkerungskreise dieser Kult zu integrieren vermag wird spätestens 1914 deutlich, als es um die Bewilligung der Kriegskredite für den imperialistischen I. Weltkrieg geht. Trotz jahrzehntelanger Unterdrückung rangiert für die Mehrheit der SozialistInnen die nationale Sache vor den objektiven Klasseninteressen.
Da steht die Politik des „Burgfriedens“ sinnfällig für das Verhältnis auch der Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) zur Nation: Warum sollten auch ausgerechnet sie sich nicht vom völkischen (Un)Geist anstecken lassen, warum sollten gerade sie, die der nationalen Tradition des Kaiserreichs zum großen Teil mehr verhaftet sind, als ihnen selbst bewusst sein dürfte, nicht dem Mainstream der Kriegsbegeisterung folgen und dabei davon überzeugt sein, nur zum Wohle der Nation zu handeln? Endlich dürfen auch sie, lange genug zu „vaterlandslosen Gesellen“ gebrandmarkt, als Teil des Volkskörpers die Burg Nation gegen den „heranstürmenden Feind“ wie gegen die Unruhestifter der Minderheitsfraktion aus den eigenen Reihen verteidigen.
Auch nach dem Zusammenbruch der deutschen Weltmachtträume gelangt die MSPD nicht zu einem Überdenken der eigenen Positionen und stimmt wie die überwiegende Mehrheit der politischen Strömungen und der Bevölkerung in das Lamento über den „Schandfrieden“ von Versailles ein. Wie die Kräfte der Reaktion verweigert sie eine rationale Diskussion der Kriegsschuldfrage und stützt sich in der revolutionären Phase von 1918/19 lieber auf die kaisertreue Bürokratie aus Militär und Verwaltung, als mit den linksradikalen Kräften an dem Aufbau eines Staates zu arbeiten, in dem Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit die der Nation und des Volkstums abschaffen sollen.
Aber, wie gesagt: die allgemeine völkisch-nationalistische Geisteshaltung geht aus dem Krieg eher gestärkt als geschwächt hervor. Der vermeintliche „Schandfrieden“, die Besetzung des Rheinlandes, die als entwürdigend empfundene Entwaffnung und Reduzierung des liebsten Kindes, des Militärs, auf eine 100.000-Mann-Berufsheer bereitet den Boden für die revanchistische Propaganda und das erneute Aufgreifen und die Steigerung des Blut-und-Boden-Mythos durch die zwar kurzfristige geschwächten, aber eben nicht zerschlagenen alten Eliten der Bourgeoisie, der Großgrundbesitzer und des Militärs.