DIE GOLDENEN ZITRONEN

Sa, 19.12.09, 21 Uhr

Sa., 19.12. | 21.00 Uhr | Stadtteilzentrum DESI

Mit den Goldenen Zitronen durch die Krise.  Zehn Thesen zur “Entstehung der Nacht“.

  1. Wenn kranke Systeme im Scheitern noch aufblühen, Positionen dazu sich im Kreise drehen und Durchhaltemaßnahmen als Argumente auftreten, dann kann man empört mittun oder sich aufs persönliche Glück kaprizieren. “Die Entstehung der Nacht“ möchte aber woanders hin.
  2. Ein Kapitalismus, der inmitten der um Krisenmanagement bemühten Programme und Neurosen seit seinem Nervenzusammenbruch immer ungeniertere Kreise zieht, ärgert die Goldenen Zitronen sowieso.Doch statt sich zu verdunkeln oder zu beflissenen Metaphern reizen zu lassen, liefern sie einen souveränen von tütender Elektronik und Drohkulissen durchzogenen Kunstvorfall.
  3. Keine Wiederholungen von Kritik. Eher geht es darum, einen antiresignativen Ausdruck für den Wunsch nach Weltflucht zu finden oder einer zähen Trauer sezierend auf den Grund zu gehen. Das Stück “Zeitschleifen“ behandelt in diesem Sinne das Hass-Hin-und-Her einer ans Ende gekommenen Liebe, indem es die verlorene Kommunikation mit dramatischen Soundbildern nachvollzieht. Die Goldenen Zitronen stellen sich nicht über die Verhältnisse. Lieber lassen sie als gute Kenner der “Konsumgesellschaft“ ihren Reflexen freien Lauf. Etwa hinsichtlich “Fusion-Kaugummis“, die vorgeben, nach “Melone und Blackberries“ zu schmecken.
  4. Text bleibt erstes Instrument. Um sich aber den Unzulänglichkeiten von Sprache, ihren Klischees oder Konfrontationslinien, aus gegebenen Anlässen zu entziehen, findet die inhaltliche Aussage der Platte ebenso drängend im Musikalischen statt. Aufgetürmt durch manches Instrument (darunter Gebläseorgel, präpariertes Klavier, Bongos, Flöten, Kontrabass) und maschinelle Druckmittel (häufig analoge Synthesizer statt Schlagzeug) wächst “Die Entstehung der Nacht“ über das Motiv hinaus, ungebrochene Aktualität zu demonstrieren und schafft sich mit Krautrock-Anleihen bei Techno-affiner Aufnahmetechnik seine eigenen Verhältnisse.
  5. Gemessen an der Realität, aus der “Die Entstehung der Nacht“ resultiert, klingt sie wie ein furios schepperndes Durch- und Miteinander demokratischster Leidenschaften. Was dem einen sein unaufgestauter Affekt, soll dem anderen ruhig seine Versenkung in perkussive Muster sein. Zwischen aufgeriebenen Rhythmen bilden sich milde String-Akzente heraus, an anderer Stelle werden Gitarren schwer wie Senkblei oder bis zur Unkenntlichkeit ausgeleiert. Gut möglich, dass die am Spannungsbogen Beteiligten neben Can, Red Krayola und den Monks etwa Leo Ferré oder Snap genommen haben.
  6. Die Goldenen Zitronen finden “Silbermond“ interessant, weil die deutschen Chart-Breaker seit einem ihrer letzten Hits sowas wie die unwidersprochene Speerspitze des popkulturell verhandelten Sicherheits-Dispositivs sind. Kein Grund, deswegen ausfällig zu werden, aber dass dieser jugendliche, im Video mit Demo-Bildern ausgestattete Wunsch nach Schutz und Stabilität so unbedarft regressiv daherkommt, gehörte mal thematisiert.
  7. Dass Michaela Mélian, Künstlerin und queen of F.S.K., an Bord geholt wurde, um Melanies “Beautiful people“ einzusingen, ist schlichtweg die Wahrwerdung einer schönen Utopie.
  8. Man möchte mit jeder Platte aufs Neue dazu gratulieren, dass sich Julius Block, Enno Palluca, Stephan Rath, Mense Reents, Ted Gaier und Schorsch Kamerun gefunden haben. Statt sich kollektivzersetzenden Hierarchiefragen zu widmen, funktioniert ihr Spannungsverhältnis wie eine offen improvisierte Arbeitsteilung, die das Wucherwerk zusammenhält. Dem Vernehmen nach herrscht untereinander eine Art Kündigungsverbot. Vorbildliches Regiment.
  9. Die Tradition, im Leben auf ausgewählt gute Freunde zu setzen, ist jede Fortsetzung wert. Peggy Kostaras (Buback), Melissa Logan (Chicks on Speed), Jakobus Siebels (JaKönigJa, Die Vögel) und Mark Stewart (Polit-DJ-Auteur) waren (größtenteils nicht zum ersten Mal) dabei, um den disparaten Gesamtklang gesanglich/ instrumental auf die Spitzen zu treiben. Müssen alle mit.
  10. Dass sich der Mainstream vor lauter Schiffbruch, Ignoranz oder Ideenlosigkeit der Methoden bemächtigt, die man einst gegen ihn ins Feld geführt hat, ist für die Goldenen Zitronen ein Missverständnis, das sich aufklären lässt. Wie man den eigenen Lärm und Glamour, die triftigen Affekte und Begriffe nicht aufgibt, sondern zu einer ausschweifenden Atmosphäre zusammensetzt, die mit den maroden Umständen alles und nichts gemeinsam hat; das kann “Die Entstehung der Nacht“ so kritisch wie begeistert aufzeigen. Doris Achelwillm