Zum Beispiel: Emmely
Es geschieht immer wieder, dass Unternehmen MitarbeiterInnen entlassen, denen Bagatelldiebstähle vorgeworfen werden. Manchmal handelt es sich dabei um Abfälle, deren Wert nicht einmal bezifferbar ist. Auch Kündigungen, die darauf gestützt werden, dass das „Vertrauen“ der Geschäftsleitung in MitarbeiterInnen schwer und irreparabel erschüttert sei, sind an der Tagesordnung. Für eine solch schlimme Erschütterung reicht ein „begründeter Verdacht“ der Geschäftsleitung, dass MitarbeiterInnen etwa einen Betrug oder Diebstahl begangen haben könnten. Die Unschuldsvermutung wird hier von den Arbeitsgerichten einfach zugunsten der Unternehmen außer Kraft gesetzt. Gesetzlich vorgeschrieben ist das nicht, sondern die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte setzte diese Standards. Es handelt sich also um Richterrecht, das freilich durch entsprechende Gesetzgebung beseitigt werden könnte.
Kolleginnen und Kollegen, die sich in einem Betrieb oder Unternehmen gewerkschaftlich engagieren oder aus anderen Gründen im Konflikt mit ihren Chefs stehen, sind von solchen Verdachtskündigungen auffallend häufig betroffen. Selbst wenn der behauptete „Verdacht“ so offensichtlich an den Haaren herbeigezogen ist, dass auch die Arbeitsrichter nicht anders können, als einer Kündigungsschutzklage stattzugeben, taugen solche Kündigungen dazu, mißliebige Mitarbeiter erst einmal Monate oder Jahre vom Arbeitsplatz (und vom Erwerb) fernzuhalten und zu zermürben. In einigen Branchen und Betrieben gehört es zum Basiswissen von GewerkschaftaktivistInnen, dass die Gefahr besteht, bei der Torkontrolle in der eigenen Tasche Dinge zu finden, deren Vorhandensein dort man weder anderen noch sich selbst erklären kann.
Teile des Gewerkschaftsapparats tun allerdings immer noch so, als handle es sich bei derartigen Methoden um krasse Ausnahmen und Einzelfälle. Hilflosigkeit und Ignoranz ist in den DGB-Gewerkschaften häufig zu finden, wenn sie mit brutalen und schmutzigen Kampfmethoden gegen AktivistInnen im Betrieb konfrontiert sind. Effizientes Vorgehen gegen derartige Kriegsführung (wie die Vorreiter dieser Methodik ihre Tätigkeit selbst definierten) oder auch nur ein breit verankertes Bewußtsein über diese Problematik findet man eher bei den sozialen Bewegungen und den Netzwerken der GewerkschaftsaktivistInnen.
So kommt es, dass selten ein Fall antigewerkschaftlich motivierter Verdachtskündigung einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird. Die gewerkschaftseigenen Rechtsbeistände zeigen sich auch in solchen Fällen oft zu konfliktscheu und raten manchmal auch bei guten Chancen vor Gericht dazu, auf Nummer sicher zu gehen und eine Einigung zu akzeptieren. Diese Einigung beinhaltet dann in der Regel den Verlust des Arbeitsplatzes. Viele betriebliche Konflikte wurden so unter Ausschluß der Öffentlichkeit von der Unternehmerseite für sich entschieden.
Der Fall einer Berliner Kassiererin Emmely, die zwei Pfandbons im Gesamtwert vo 1,30 Euro unterschlagen haben soll, ging dagegen durch die Medien, war Thema in den Nachrichten, diversen Talkshows, löste eine breite öffentliche Diskussion aus und zwang verschiedene Politiker, sich zu positionieren. Es lohnt sich, genauer zu betrachten, wie und warum es dazu kam, dass dieser eigentlich alltägliche Fall solche Wellen schlug und was der „Fall Emmely“ und seine Begleitumstände für eine gewerkschaftliche Praxis und für linke Basisarbeit bedeuten.
Was war geschehen?
Am 22.1.2008 soll die Kassiererin Barbara E., genannt Emmely, in einer Kaiser«s-Filiale in Berlin Hohenschönhausen fremde Pfandbons unberechtigterweise eingelöst haben. Sie hatte sich zwar in den 31 Jahren ihres Beschäftigungsverhältnisses nie etwas zu Schulden kommen lassen und auch nie eine Abmahnung kassiert, aber das Verhältnis zwischen ihr und der Kaiser«s-Leitung war zu diesem Zeitpunkt stark belastet. Sie hatte sich an den Streikaktionen im Einzelhandel beteiligt und sich dabei als ver.di-Aktivistin exponiert.
„Tatverdacht“ und Kündigung stehen in bemerkenswertem Zusammenhang mit Emmelys Streikaktivitäten. Seit dem Winter 2007 streikten im Einzelhandel beschäftigte Kolleginnen und Kollegen. Jener Streik der Jahre 2007/2008 war der bislang längste und umfangreichste in dieser Branche, in der Prekarität, Verstöße gegen die Rechte der Beschäftigten und teils unmenschliche Arbeitsbedingungen so sehr um sich greifen wie in nur kaum einem anderen Wirtschaftszweig in Deutschland. Die Kampfbereitschaft der Belegschaften in dieser Tarifauseinandersetzung war relativ hoch. Schließlich verzeichnete der Einzelhandel Gewinne, wollte aber den Beschäftigten die Zulagen für Spät- Nacht- und Wochenendarbeit nehmen. Trotz der gewaltigen Schwierigkeiten, auf die gewerkschaftliches Engagement in vielen Betrieben der Branche trifft, gingen die KollegInnen kämpferisch und in ausreichender Stärke in den Streik. Die Gewerkschaft zeigte sich überraschend aufgeschlossen gegenüber Unterstützungsangeboten aus den sozialen Bewegungen. So kam es in Einvernehmen mit den Streikenden und der Gewerkschaftsleitung zu vielfältigen und fantasievollen Aktionen in und vor Einzelhandelsbetrieben. Für einen ersten Einbruch sorgte die ver.di-Streikleitung. Statt die Streikhandlungen im Weihnachtsgeschäft auszuweiten, wie es den Vorstellungen vieler Streikender entsprochen hätte, wurden Streiks in dieser Zeit ausgesetzt und so nicht nur ein schwerer taktischer Fehler begangen, sondern auch die Streikfront erheblich geschwächt. In vielen Betrieben wurden die Streikenden jetzt an ihrem Arbeitsplatz einzeln bearbeitet und bedroht. So auch in der Kaiser«s-Filiale, in der Emmely arbeitete. Etliche hielten natürlich dem Druck nicht stand. Auf einer Kaiser«s-Streikbrecherveranstaltung (Ein Bowlingabend – häufig der Rahmen von Union Busting Veranstaltungen) werden die Nicht-Streikenden am 19.1.2008 aufgefordert, die streikbereiten KollegInnen zu beobachten und zu denunzieren. Emmely wird von Kolleginnen gewarnt. Sie hatte ihre Kolleginnen organisiert, die StreikteilnehmerInnenliste für die Auszahlung der Streikgelder geführt und war bei Aktionen und Kundgebungen unter den aktivsten Kaiser«s-Kolleginnen in Berlin. Selbstverständlich war sie in ihrer Filiale Nummer eins auf der Abschußliste, und sie wußte das. In dieser Situation nun soll sie bei einer Kollegin, deren Abneigung gegen die Aktivistin Emmely bekannt war, fremde Pfandbons eingelöst haben, um sich um 1,30 Euro zu bereichern. Diesen Vorwurf erhob die Geschäftsleitung drei Tage nach dem angeblichen Vorfall. Die Aufzeichnungen der Überwachungskameras waren zu diesem Zeitpunkt gerade gelöscht worden.
Was spricht die Klassenjustiz?
Es gibt eigentlich nur zwei Erklärungen für die Vorwürfe, die Emmelys Kündigung ermöglichten. Die erste wäre, dass Emmely blöde ist. Das ist sie aber zweifelsohne nicht. Die zweite Erklärung: Die Vorwürfe stimmen nicht. Dass sie nicht stimmen, hat auch Emmely selbst immer wieder erklärt.
Die Arbeitsgerichte sollten dies in erster und zweiter Instanz jedoch anders sehen.
Werfen wir zunächst aber einen Blick auf die Unterstützungsarbeit für Emmely. Sofort nach der Kündigung bildete sich ein Solidaritätskomitee, dessen Kern Emmely und ihre Kolleginnen bereits im Streik aktiv unterstützt hatte. Anders als der ver.di-Anwalt und die Gewerkschaftsfunktionäre, die routinemäßig von Öffentlichkeit während des laufenden Verfahrens abgeraten hatten und Emmely empfahlen, ein finanzielles Angebot von Kaiser«s anzunehmen, setzten Emmely und das Soli-komitee darauf, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Ohne die Entscheidung Emmelys, ein hohes materielles Risiko auf sich zu nehmen und den nervenaufreibenden Kampf weiterzuführen, wäre der Fall nie bekannt geworden. Das immense mediale und öffentliche Echo ist durch diese Entscheidung möglich geworden, die Emmely fällte, als weder sie noch ihre UnterstützerInnen ahnen konnten, wie erfolgreich ihre Kampagne werden würde. Sie wechselte den Rechtsbeistand und wehrte sich vor Gericht gegen die Kündigung. Zu dieser Zeit beklagte das Solidaritätskomitee offen die mangelnde Unterstützung durch die zuständigen ver.di-Funktionäre.
Die Fachbereichsleiterin des Bezirks Berlin-Brandenburg meinte hierzu im Rückblick: „Sie hat zwar sofort Rechtsschutz von uns bekommen, sich dann aber entschieden, einen externen Anwalt zu nehmen. Nach dem erstinstanzlichen Urteil hatten wir eine sehr breite Öffentlichkeitskampagne gestartet, was auch dazu führte, daß sich KaiserÕs verhandlungsbereit zeigte. Verhandeln wollte die Kollegin aber nicht – für sie gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich bleibe drin oder ich fliege raus. Damit waren dann unsere Möglichkeiten erschöpft, mehr konnten wir nicht tun.“
Nachdem Emmely im August erstinstanzlich verloren hatte und ihr Fall durch die Arbeit des Solidaritätskomitees einige Aufmerksamkeit erhalten hatte, zeigte aber auch ver.di, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, unter Angriff stehende Mitglieder wirksam zu unterstützen.
Die offizielle Unterstützung der Fachbereichsleitung fand aber bald ein Ende:
Nicht nur einige Kolleginnen, auch der Betriebsrat des Kaisers-Bezirks Berlin ließ sich gegen Emmely in Stellung bringen. In einem Protestschreiben an ver.di verurteilte der Betriebsrat „im Namen der Beschäftigten“ die Aktivitäten der Gewerkschaft gegen Kaiser«s, die zeitweise bis hin zu Boykottempfehlungen gegangen waren. Er gab an, beim Widerspruch gegen die fristlose Kündigung der Kollegin gelogen zu haben. In Wahrheit gebe es keinen Zusammenhang zwischen der Entlassung und Emmelys Rolle im Streik.
Ver.di veröffentlichte das Schreiben auf der Soliwebsite und stellte die offiziellen Aktionen und Aufrufe ein. Das Solidaritätskomitee, manche Gewerkschaftsgliederungen, linke Kreise und Medien legten bundesweit aber nach. Es kam weiterhin zu zahlreichen unterschiedlichen Aktionen gegen Kaiser«s. Der Fall wurde immer bekannter. Die Verhandlung in zweiter Instanz erfuhr ein Medienecho wie wohl kaum ein Kündigungsfall zuvor. Dadurch sah sich nun auch die ver.di-Führung wieder veranlasst, die Solidarität mit Emmely wieder aufzugreifen.
Über asoziale Barbaren
Im Februar 2009 verkündet das Landesarbeitsgericht das Urteil. Es fällt nicht nur wieder zugunsten der Kaiser«s-Bosse aus, sondern die Richterin unterstellt sogar, der Betrug um 1,30 Euro sei von Emmely begangen worden. Daniele Reber, die vorsitzende Richterin, ist für den Springer Science Business + Media Konzern tätig. Sie berät dort „Arbeitgeber“ über effiziente Methoden, Mitarbeiter auch unter erschwerten Bedingungen loszuwerden. Mit ihrem Urteil, dessen Begründung sich ausgiebigst mit den Interessen des Unternehmens beschäftigt, beweist sie also nur Konsequenz. Nicht nur ein Großteil der Bevölkerung hält dieses Urteil für ungerecht, auch viele Politiker, u.a. von den Grünen und der SPD, üben sich in ungewohnt heftiger Richterschelte.
Dieses „barbarische Urteil von asozialer Qualität“ (W. Thierse) ermöglicht haben freilich auch die Grünen und Thierses SPD. Diese hätten in den acht Jahren ihrer gemeinsamen Regierungszeit Gelegenheit gehabt, das Kündigungschutzgesetz so zu gestalten, dass „barbarische“ KapitalistInnen und ihre asozialen RichterInnen weniger leichtes Spiel haben. Es war aber, wie wir wissen, eben nicht in ihrem Interesse, derart gegen ihre Auftraggeber zu handeln.
Emmely und ihre UnterstützerInnen kämpfen weiter – für alle Emmelys dieser Welt. Neben Veranstaltungen, Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit steht der Gang vors Bundesverfassungsgericht an.
Den Abschluss des Artikels überlassen wir Willy Hajek und Georg Zattler, die sich für die Solidarität mit Emmely engagieren:
„Emmely (…) wird bundesweit von ver.di-Gruppen, Schulen und anderen Initiativen eingeladen, ihre Geschichte wird mehr und mehr zum Anlass für andere Betroffene, von sich zu berichten. Emmely macht ihnen, trotz der aktuellen Niederlage, Mut, ungehorsam zu werden, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Hinter allem steht die alltägliche Arbeit des Soli-Komitees, in dem alternative MedienaktivistInnen von kanalB, labournet.de und netzwerkIT.de großen Anteil haben. Hier entwickelt sich eine kooperative Praxis, von der andere nur lernen können.“
mehr: www.emmely.org oder www.NetzwerkIT.de
und am Do., 09.07.09 | 19.30h | Archiv Metroproletan, Eberhardshofstr. 11 Hinterhaus
Ende der Vertretung Emmely und der Streik im Einzelhandel
Eine Film- und Diskussionsveranstaltung mit Emmely aus Berlin, veranstaltet von der organisierten autonomie (oa) und der FAU Nürnberg
barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Juli 2009