Von Gurkennorm und Superstaat: Die EU auf dem Weg zum Bundesstaat?!

(Teil 1)

Die europäischen Entwicklungen in den vergangenen Jahrzehnten scheinen an den meisten NormalbürgerInnen ebenso vorbei zu ziehen, wie in den Debatten der Mehrheit der Linksradikalen in Deutschland. Was bedeutet das „Nein“ Frankreichs und der Niederlande zur EU- Verfassung? Handelte es sich um schlichten nationalistischen Trotz oder fürchteten sie die Beschneidung ihrer Rechte? Was veränderte sich durch den Lissabon Vertrag wirklich? Wie weit ist die EU noch von einem Staatengebilde wie den USA entfernt? Die jüngsten Gesetzesinitiativen und Reformen gilt es nicht nur im Einzelnen zu bewerten, sondern im Gesamtzusammenhang zu begreifen. Betrachtet man die Geschichte seit dem Ende des 2. Weltkrieges, so zeichnet sie eine deutliche Entwicklung von einem schlichten Wirtschaftsbündnis hin zu einer Union mit eigenen bürgerlich-parlamentarischen Institutionen und Gesetzen. Aber, wie weit ist diese Transformation schon gediehen? In den folgenden beiden Teilen, werden die wichtigsten Verträge und Reformen noch einmal im Hinblick auf diese Fragen betrachtet. Vor allem aber sollen die Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Gefahren beleuchtet und analysiert werden, die sich für die Lohnabhängigen und die radikale Linke aus dieser Konstituierung ergeben könnten.
Der erste Teil soll vor allem eine Bestandsaufnahme bieten, in der das Fortschreiten der Verträge und Reformen seit den 50ern beleuchtet und somit der Weg der EU nachgezeichnet wird. In der nächsten Ausgabe werden diese Fakten unter Berücksichtigung der Krise ausgewertet und im Hinblick auf das (Nicht-) Handeln linker Kräfte diskutiert.

Die Montanunion als erster Schritt

Die Geschichte der Europäischen Union wie wir sie heute kennen, begann nach dem 2. Weltkrieg. Nachdem der erste Versuch, ein Abkommen rein politischer Natur zu schließen, wegen der Weigerung Frankreich scheiterte, versuchten sich die führenden europäischen Staaten an einem Wirtschaftsbündnis. Ergebnis war im Jahre 1951 die „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS, oft auch Montanunion genannt). Er gewährte allen Mitgliedstaaten Zugang zu Kohle und Stahl, ohne Zoll zahlen zu müssen. Eine besondere Neuheit war die Gründung einer Hohen Behörde, die im Bereich der Montanindustrie, also der Kohle- und Stahlproduktion, gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedstaaten treffen konnte. Die EGKS war damit die erste supranationale europäische Organisation überhaupt. Die Gründerstaaten des EGKS-Vertrages waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. (Später gab es ähnliche Übereinkünfte hinsichtlich einer gemeinsamen Atompolitik der Europäischen Staaten (Euratom).)
Historisch einmalig wurde der Fakt betrachtet, dass Mitgliedsstaaten freiwillig Teile ihrer Hoheitsrechte abtraten. Dies markierte den Beginn des Prozesses des europäischen Zusammenwachsens und hat maßgeblich auf die folgenden Schritte eingewirkt. Die Reaktion der USA unterscheidet sich tatsächlich wenig von dem heutigen Verhältnis, das die beiden Supermächte unterhalten. Einerseits befürwortete die USA die Montanunion als willkommenen Partner in der „Systemkonkurrenz“ gegen die Sowjetstaaten, andererseits markierte die Montanunion aber einen der ersten Schritte in der wirtschaftlichen Emanzipation Europas von den USA. Europa wurde somit auch zu einem stärkeren Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Nicht zu vernachlässigen ist die Bedeutung, die Kohle und Stahl zu Zeiten des weltweiten Aufrüstens zukamen. Wenn von den friedlichen Zielen des europäischen Prozesses die Rede ist, dann waren damit lediglich die Bündnispartner gemeint.

Die Geburt der ?Europäischen Gemeinschaft

Mit dem Fusionsvertrag, bei dem die EGKS, die europäische Atomgemeinschaft und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, 1965 in der EG (Europäische Gemeinschaft) aufgingen und gemeinsame übergeordnete Gremien zustande kamen, wurde neben der Wirtschaftsebene nun auch die politische Zusammenarbeit verstärkt in den Fokus genommen. Ein wichtiger Eckpfeiler, der nun in der EG an Bedeutung gewann, war die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts: Zölle sollten in der EG abgeschafft werden, freier Dienstleistungs- Waren- und Personenverkehr gewährt werden, beständige Wirtschaftsausweitung, ausgewogener Handelsverkehr, „redlicher“ Wettbewerb, gemeinsame Handels- Landwirtschafts- und Verkehrspolitik geschaffen werden.
1985 beschloss der Europäische Rat von Mailand in einer dramatischen Kampfabstimmung mit einer Mehrheit von sieben zu drei eine Regierungskonferenz zu den Themen Befugnisse der Institutionen, neue Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft, die sich in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) veräußern sollte. Das Ziel „Europäische Union“ fiel bei dieser Konferenz zum ersten Mal. Dass diese weiteren Schritte nicht bei allen Staaten auf den gleichen Zuspruch stießen, hing mit den verschiedenen Vorstellung eines modernen kapitalistischen Staates zusammen und den Vorstellungen über die Rolle, die der jeweilige Staat in einem solchen Konstrukt, wie der EG einnehmen könnte. Da die europäische Einigung für die BRD nach dem Nationalsozialismus ein weiterer Schritt zurück in den Schoß der modernen kapitalistischen Staatengemeinschaft war und Deutschland zugleich sehr früh wieder wirtschaftlich potent und relativ bevölkerungsreich war, sah sich die BRD in einer sicheren Position. Gerade kleinere Staaten wiederum, sahen sich eher gezwungen den Weg der europäischen Einigung zu gehen, um nicht in der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, weil etwa ihre Produktion zu schwach und ihre Zölle zu hoch waren. Länder wie Frankreich hingegen pochten eher auf ihre nationale Souveränität und standen vielen Schritten hin zur EU eher ablehnend gegenüber. Großbritannien saß aufgrund seines engen Verhältnisses zu den USA oft zwischen den Stühlen. Schon früh wurde Europa in Abgrenzung zu den USA gedacht. Während die USA als konservatives Kapitalismusmodell abgetan wurden, formierten sich die Sozialdemokratie und die Liberalen in den europäischen Ländern zu einem Block, der ein „nettes“ kapitalistisches Modell anpries.
Habermas ist einer der wohl bekanntesten Verfechter dieser Idee und schreibt: „Die Regulierungskraft des Nationalstaates reicht längst nicht mehr aus, um ambivalente Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung abzufedern. Was heute als `europäisches Gesellschaftsmodell` gerühmt wird, lässt sich nur damit verteidigen, dass die Politik den Märkten selbst nachwächst. Allein auf europäischer Ebene kann ein Teil der politischen Steuerungsfähigkeit zurückgewonnen werden, die auf nationaler Ebene so oder so verloren geht.“ Dass aber die EG selbst die Notwendigkeit solcher Steuerungen hervorgebracht hat, lässt er damit außen vor. Immerhin kann Europa eher als Globalisierungs-pusher gesehen werden, und weniger als ein „Opfer“ derselben. Denn gerade in Europa wurden zwar die Grenzen für Waren, Zölle etc. aufgehoben, aber vorerst wenig an Regulierungsmaßnahmen getroffen. Das ist ein sehr hervorzuhebendes Merkmal dessen, was man heute als Globalisierung bezeichnet. Die Folgen dieser Politik zeigten sich erst in jüngster Vergangenheit in Form der Krise. Doch dazu später…

Der Vertrag von Maastricht

im Jahre 1993 veränderte die EG grundlegend. Die Europäische Union wurde mit diesem Vertrag offiziell gegründet. EinE BürgerIN war nun nicht mehr nur StaatsbürgerIn, sondern auch UnionsbürgerIn. Maastricht steht für die Wandlung vom wirtschaftsliberalisierenden Zweckverband hin zu einem politischen Hoheitsträger, der sich nun auch aus der Legitimation seiner BürgerInnen ableitet. Doch was den Unionsbürger vom Staatsbürger unterschied, ist das Recht, das ihnen zugestanden wird. Im Recht unterscheidet man zwischen positiven und negativen Rechten. Die negativen Rechte beschreiben die so genannten Abwehrrechte, die positiven Rechte wiederum stehen für aktive Beteiligung, wie zum Beispiel Organisierungsfreiheit, oder – in der deutschen Verfassung nach wie vor existent – das Recht auf Widerstand im Falle drohender Auflösung der Rechtsstaatlichkeit. Die positiven Rechte sind also nach wie vor Sache der Nationalstaaten. Dieser Fakt ist übrigens einer der wichtigen Gründe, warum gerade viele Liberale die EU in ihrer jetzigen Verfasstheit ablehnend gegenüberstehen. Wer bei den Maastricht – Abkommen nach ArbeitnehmerInnenrechten sucht, wird im beigelegten Protokoll fündig. Eine Charta hält dort Floskeln fest, die aber in ihrer Form nicht rechtlich bindend sind. Ansonsten wird an mehreren Stellen der freie Warenhandel und Wettbewerb unterstrichen. Doch es steht nun nicht mehr nur die Wirtschaft allein im Vordergrund. Wenn Privateigentum geschützt werden muss und Grenzen die Armen fern halten sollen, die in die Länder fliehen, die ihnen Bomben schicken und Ressourcen nehmen, darf die gemeinsame Sicherheitspolitik nicht fehlen. Die justiziare wie polizeiliche Zusammenarbeit (PJZS) wurde hier ebenso festgelegt, wie Grundpfeiler für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Auch die gemeinsame Währung wurde bei diesen Vertragsgesprächen ins Auge gefasst und gut sieben Jahre später umgesetzt. Im Großen und Ganzen lässt sich also festhalten, dass durch die Maastricht-Verträge die Erweiterung von einer Wirtschaftsunion zu einer politischen Union manifestiert wurde. Mit dem Vertrag von Nizza wurde diese Absichten noch einmal hinsichtlich der EU-Gremien Ebene unterstrichen. Mit dem (Schein-) Argument, man müsse sich für die Aufnahme der ehemaligen Ostblock-Staaten rüsten, wurde das EU-Parlament Auch die gemeinsame Währung wurde bei diesen Vertragsgesprächen ins Auge gefasst und gut sieben Jahre später umgesetzt. Im Großen und Ganzen lässt sich also festhalten, dass durch die Maastricht-Verträge die Erweiterung von einer Wirtschaftsunion zu einer politischen Union manifestiert wurde.
Mit den letzten beiden Verträgen hat also eine massive Zentralisierung der Macht stattgefunden. Und zwar nicht nur im weltweiten Kontext, in dem die EU als eine neue Wirtschaftsmacht auf dem Schachbrett der globalen Konkurrenz zu finden ist, sondern auch innerhalb der EU. Schon vor dem Beitritt der meist kleineren Oststaaten wurde beschlossen, ihnen weniger Stimmrecht als zum Beispiel dem starken Deutschland einzuräumen. Zwar wird die direkte Bindung von Stimmen an Bevölkerungsgröße erst 2014 eingeführt, dennoch war das Signal an die kleineren Staaten eindeutig.
Weiter geht´s mit unserem kleinen Überblick zur Entwicklung der europäischen Einigung zu Gunsten der Herrschenden in Europa in der Oktoberausgabe. Darüberhinaus erwartet euch dann eine Einschätzung der derzeitigen Dynamik

Erschienen in barricada – August/September 2012