Vertraute Gerüche

Integration, Unterschichten und Untermenschen

Menschen, die in den Großstädten leben, in den Wohnblocks, in der 12. Etage, die die fremden Geräusche, Gerüche und Anblicke jeden Tag neben sich haben, die denken da völlig anders, die haben null Verständnis für diese Zurückhaltung.
Hans-Peter Uhl, CSU über den zu zögerlichen Umgang mit undeutschen Elementen

Die Kosten der Krise wurden gerade erfolgreich vergesellschaftet. Jetzt werden wieder munter Gewinne eingefahren, und die bleiben gefälligst privat. Immer dreister betreiben die Regierungsparteien ihre Umverteilungspolitik  von unten nach oben. Dass sie Politik für die Konzerne machen, versuchen FDP und CDU/CSU oft gar nicht mehr zu verbergen.  Der Unmut über die Regierung wächst merklich, und so manch eine/r erinnert sich noch gut daran, dass es SPD und Grüne waren, die vor zehn Jahren mit ihrer Agenda 2010 die Grundlage für die jetzige schwarz/gelbe Politik geschaffen hatten. Welch ein Zufall, dass gerade in dieser Situation eine Unterschichts-, Werte- und Integrationsdebatte daherkommt, mit einem „tabubrechenden“ Sozialdemokraten als Stichwortgeber. Wer soll aber eigentlich in was integriert werden und wozu? Warum dürfen die Ackermanns und Schaefflers „Parallelgesellschaften“ bilden? Wer rettet Deutschland vor der Selbstabschaffung? Diese „Debatte“ wirft viele Fragen auf. Wir bemühen uns natürlich einige davon zu beantworten. Den ersten Teil unseres Versuchs habt ihr vor euch. In der nächsten Ausgabe geht’s dann weiter.

Breiter und intensiver als heute wurde nach dem Fall der Mauer Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus aktiviert.

Zu Beginn der 90er Jahre hetzten SPD, CDU/CSU und nahezu alle bürgerlichen Medien im Verein mit den Neonazis gegen AsylbewerberInnen, die Deutschland „überfluten“ würden. Im Lauf dieser Kampagne kam es zu rassistischen Angriffen mit Todesopfern und in mehreren Städten zu Pogromen, die teilweise durch die Polizei geduldet und geschützt wurden. 1993 schließlich setzten die Regierenden erfolgreich die de-facto-Abschaffung des Asylrechts durch. Doch die Vorbereitung dieser Grundgesetzänderung war nicht der Hauptgrund, warum die Parteien der „bürgerlichen Mitte“ auf die nationalistische und fremdenfeindliche Karte gesetzt hatten. Das Propagieren einer nationalen Gemeinschaft und die Diskussion um „Ausländer“ und AsylbewerberInnen eignete sich hervorragend, die unangenehmen Folgen der Annexion der DDR und die damit einhergehende größte Privatisierungsaktion der deutschen Geschichte nahezu unangefochten über die Bühne gehen zu lassen und gleichzeitig das Wiedererstehen eines imperialistischen deutschen Staates vorzubereiten. Die mörderischen Aktivitäten rassistischer VolksgenossInnen wurden den Herrschenden natürlich bald lästig. Sie übten ungefragt nichtstaatliche Gewalt aus, drohten zu einer nicht steuerbaren Gefahr zu werden und schadeten vor allem massiv dem Image Deutschlands im Ausland, also der deutschen Wirtschaft. Die „das Boot ist voll“-Kampagne wurde einerseits abgelöst vom offiziell ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ gegen Neonazismus und andererseits von einer neuen Hetzkampagne gegen die VerliererInnen der marktwirtschaftlichen Konkurrenz. Als Parasit gekennzeichnet wurden ab Ende der 90er von den Medien, den Herrschenden und ihren PolitikerInnen die Erwerbslosen und Sozialhilfeempfänger. Welche Staatsangehörigkeit  diese „Sozialschmarotzer“ hatten, spielte dabei eine untergeordnete Rolle.
Auch Sarrazin, seinem Gefolge und seinen bürgerlichen KritikerInnen geht es nicht in erster Linie um die Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit. Natürlich hilft der medial beförderte Diskurs, der unter den Stichworten „Integration“ und „Sarrazin“ daherkommt denjenigen, für die Rassismus ein wichtiges politisches Anliegen ist, ihre Stimme zu erheben. Doch das Problem, das Sarrazin und Co. ausgemacht haben, ist nicht das Nicht-Deutschsein von Menschen. Sarrazin verhöhnt und beschimpft seit Jahren nicht in erster Linie MigrantInnen, sondern die (zum größten Teil deutsche) „Unterschicht“. Sarrazins Unterschicht entspricht nicht seinem Bild von Deutschland und den Deutschen. Sie sind unnütz, also Schädlinge, und viele von ihnen haben nicht einmal die ehrliche Absicht, sich nützlich zu machen. Die deutschen bzw. preußischen Tugenden, die dem Kapital so willkommen sind, sind den unteren Klassen zum Teil fremd. Insofern sind sie eben undeutsch. Sie belasten und belästigen die tugendhaften Deutschen, denen Staatstreue und vor allem die unbedingte Bereitschaft, sich verwerten zu lassen, heilige Pflicht ist.
Hier kommt nun etwas Streit auf zwischen Sarrazin und seinen bürgerlichen KritikerInnen: Man ist sich einig, dass die Angehörigen der unteren Klassen verkommen sind, aber wie groß ist der Anteil der (Erb-)anlagen an diesem Zustand und in welchem Maß sind die Umweltfaktoren schuld? Als Umwelt ins Auge gefasst wird hier zunächst das unmittelbare soziale Umfeld, Familie, Milieu usw. und nicht etwa die Verhältnisse, welche die Konkurrenz in der Marktwirtschaft hervorbringen muss. Denn von vorneherein ist klar: Am Kapitalismus an sich kann es nicht liegen. Aus der falschen Fragestellung folgt die Diskussion darüber, ob strenge Volkserziehung vergebliche Liebesmüh ist oder der Abschaum durch Schikanen, Zucht und Ordnung und staatliche Aufsicht vom Säuglingsalter an noch verwertbar gemacht werden kann. Statt „verwertbar“ wird natürlich lieber auf das Wort „anständig“ oder „produktiv“ zurückgegriffen oder, bei MigrantInnen, auf „integriert“.

Wir brauchen weniger Ausländer, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen.
Dr. Günther Beckstein, CSU

Nicht nur für Dr. Sarrazin und die übrige SPD steht fest, dass der Mensch der (deutschen) Wirtschaft zu dienen hat (oder dem „Gemeinwohl“, was übersetzt bedeutet: Dem Wohl der Oberschicht). CDU/CSU, Grüne und FDP wissen selbstverständlich auch, wem sie dienen und haben bei ihren Beiträgen zur „Integrationsdebatte“ und dem Unterschichtenproblem stets den wirtschaftlichen Nutzen im Blick. Auch Sozialverbände, Kirchen, Gewerkschaften oder die Linkspartei, die ja manchmal behaupten, die Wirtschaft habe den Menschen zu dienen, gehen in ihren Argumentationen oft vom Standpunkt der KapitalistInnen aus. Sie behaupten dann in der Regel, gerechtere Teilhabe und menschlichere Armenpflege würden doch schließlich die Wirtschaft voranbringen, etwa über die Stärkung der Kaufkraft der unteren Schichten und dem damit einhergehenden Anstieg der Binnennachfrage. Gern verweisen sie auch auf die hohen Kosten, die durch die Existenz und den Unterhalt  dieser „bildungsfernen“ und in jeder Hinsicht verarmten Schicht entstehen. Andere wissen zwar, dass eine Entschärfung der gesellschaftlichen Konkurrenz dem Kapital erst mal nicht nützt, sehen aber die Gefahr und den Schaden, den der Ausschluss eines bedeutenden und zunehmend größer werdenden Teils der Bevölkerung mit sich bringt. Und schließlich ist da noch das Argument der ungenutzten menschlichen Ressourcen. Während PolitikerInnen predigen, die Kevins und Murats aus den Problembezirken der Republik sollten keinesfalls Hartz IV als Berufsziel haben dürfen, gibt es etliche Restschulabschlussklassen, deren qualifizierte AbsolventInnen alle keinen Ausbildungsplatz ergattern können. Das bringt die bürgerlichen KritikerInnen des derzeitigen Bildungssystems auf die Forderung nach einer gerechteren, zielführenderen Selektion. Schließlich kann sich keine moderne Industrienation leisten, Potential brachliegen zu lassen… Darin ist man sich einig: Dass Menschen zu unrecht in die Unterklasse gedrückt werden, ist ein Mißstand, der beseitigt werden muss. Konsens besteht aber auch darüber, dass auch nach sachgerechter Selektion ein harter Kern integrierungsunwilliger oder -unfähiger Individuen bleibt. Die Ursache für diesen bösen Willen bzw. diese Minderwertigkeit ist aus bürgerlicher Sicht wiederum im Menschen zu suchen und nicht in der Tatsache, dass Konkurrenz VerliererInnen hervorbringen muss. Das bringt uns zurück zu der Frage, die Sarrazin, von der Leyen und Gabriel leicht unterschiedlich beantworten: Wie ist mit den Schädlingen umzugehen?

„Wer also eine zweckmäßige, wohlfeile und leichte Methode ausfindig machen kann, diese Kinder zu gesunden und nützlichen Gliedern des Staates umzubilden, wird sich ein so hohes Verdienst um das Publikum erwerben, daß man ihm mit Recht eine Statue als Retter der Nation aufstellen könnte. Mein Plan ist weit davon entfernt, sich allein auf die Kinder der Bettler von Profession anwenden zu lassen; er ist von weit größerer Ausdehnung, und wird alle Kinder von gewissem Alter umfassen, deren Eltern zur Ernährung derselben eben so wenig befähigt sind, wie die Bettler in den Straßen. (…) Ein sehr kenntnißreicher Amerikaner meiner Bekanntschaft, in London ansäßig, hat mir die Versicherung gegeben, daß ein junges, gesundes, wohlgenährtes Kind vom Alter eines Jahres ein höchst schmackhaftes Nahrungsmittel und eine gesunde Speise bietet, ob geschmort, gebraten, gebacken oder gekocht; und ich zweifle gar nicht, daß es ebenfalls als Fricassée oder Ragout sich wird anwenden lassen.“
Jonathan Swift, Ein bescheidener Vorschlag
im Sinne von Nationalökonomen,
wie Kinder armer Leute zum Wohle
des Staates am Besten benutzt werden
können, 1729 *

Einem menschenfreundlichen Kapitalisten fiel bekanntlich die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen ein, aber solche Stimmen sind exotische Ausnahmen. Wenn schon Brot und Spiele, dann bitte auf niedrigstem Niveau (also etwa die von Sarrazin empfohlene Ration von 125 Gramm Nudeln mittags, und abends Dieter Bohlens Freak Show) und nur in Kombination mit Ausschluss, Zwang, Druck und Schikanen. Alles andere fördert die  Vermehrung der Unterschicht und macht für KopftuchmädchenproduzentInnen den Zuzug in das deutsche Sozialsystem noch attraktiver. Alle PolitikerInnen im Dienste des Kapitals sind in diesem Punkt Sarrazins Meinung: Es gilt, den Zuzug zu steuern und gegebenenfalls zu begrenzen. Dr. Sarrazin hat aber erst mal nichts gegen „Ausländer“. Er hat was gegen die Verbindung von undeutscher Fruchtbarkeit und genetisch bedingter Dummheit, die für Deutschland (und das heißt auch hier wieder: die deutsche Wirtschaft) langfristig fatal sein wird. Sarrazin behauptet, dass „Deutschland“ sich abschafft, wenn es die Vermehrung des undeutschen Lumpenproletariats nicht stoppt. Dass Dr. Sarrazin diese seine zentrale These selbst nicht ganz ernst nimmt, zeigt die Art, wie er demographische Entwicklungen in die Zukunft hochrechnet (Er folgt etwa dieser Methode: In den letzten fünf Tagen ist die durchschnittliche Temperatur in Nürnberg um zwei Grad gestiegen. Schon in wenigen Monaten wird die Region also aufgrund der Hitze unbewohnbar sein.) Ein Großteil des Disputs zwischen Sarrazin und seinen Anhängerinnen einerseits und den bürgerlichen KritikerInnen andererseits besteht lediglich in der Frage, wo die Grenze zu ziehen sei. Machen Volkserziehung, Schikanen und Zwangsarbeit als Integrationsmittel Sinn, kann man von Teilen der Unterschicht erwarten, sich zu Nützlingen am Volkskörper zu wandeln (darauf setzen Ministerin Schröder, Jürgen Trittin und Kanzlerin Merkel) oder sind solche Anstrengungen vergebliche Mühe und sollten die staatlichen Schikanen darauf abzielen zur Abwanderung zu bewegen, auszugrenzen und Fortpflanzung zu verhindern. Nebenbei: Dies ist nicht der einzige Strang des bürgerlichen Diskurses zu Sarrazin. Unter anderem geht’s auch darum, ob man das alles denn so sagen dürfe.
Einige KritikerInnen Sarrazins stoßen sich an seiner Behauptung, alle Juden teilten ein bestimmtes Gen. Wir sind uns ziemlich sicher, dass „alle Juden“ und überhaupt alle Menschen Gene besitzen und auch mehr als ein Gen gemeinsam haben. Sarrazin deshalb in diesem Zusammenhang vom Vorwurf des Rassismus freizusprechen wäre aber Unfug. Schließlich gibt es noch den durch und durch rassistischen Kontext, auf den wir noch eingehen werden, und nicht zuletzt die typische Formulierung. Ein bestimmtes, aber nicht näher bezeichnetes, Gen teilen „alle Juden“ also. So kommt seit der Befreiung vom Faschismus fast jeder verdruckste Antisemitismus daher. Bei Dr. Sarrazin bedingt das Judengen offenbar unter anderem die von ihm attestierte überdurchschnittliche Intelligenz „der Juden“. Auch das ist völlig konform mit den gängigen antisemitischen Stereotypen. Dass Dorfdeppen keine Weltverschwörung anzetteln oder den Wohlstand der Nationen an sich raffen können oder was „der Jud“ in den Hirnen der AntisemitInnen sonst so macht, geben wohl auch fast alle VerschwörungstheoretikerInnen zu. Der Zentralrat der Juden stellte nach dieser Art Rassenkunde und den Attacken gegen die (bei Sarrazin unterdurchschnittlich intelligenten) Moslems seine Intelligenz unter Beweis und griff Sarrazin und seine HelferInnen scharf an.
Ist Sarrazin ein Nazi? Steckt hinter der Integrationsdebatte ein Masterplan? Welche erwünschten Nebeneffekte hat sie? Wie volksfremd sind die Moslems? Dies alles und noch mehr Kochrezepte von Ursula von der Leyen und Thomas Robert Malthus lest ihr in der nächsten Ausgabe.

*  Bei einigen LeserInnen ist die Empörung sicher groß: Kochrezepte in der barricada! Für alle anderen eine Empfehlung: Swifts sehr moderner und lesenswerter „Ein bescheidener Vorschlag

Erschienen in barricada – November 2010