Stuttgart 21 – Proteste gegen ein Prestigeprojekt

oder: wie der Bürger zum Chaoten wurde

Stuttgart 21 ist in aller Munde. Kaum ein Mensch, der mit diesem Begriff nichts anfangen kann. Viele verbinden damit eine weitere Entscheidung der Politik, die den Willen der Mehrheit der Menschen schlichtweg ignoriert. Viele verbinden aber auch ökologiefeindliche Entscheidungen mit diesem Projekt, bei dem nicht nachhaltig gedacht wurde. Daher ist es wohl überflüssig, Seiten über die Entstehung der Proteste und das bürokratische Hin und Her zwischen GegnerInnen und BefürworterInnen zu füllen. Im folgenden Artikel soll vor allem der Polizeieinsatz gegen die AktivistInnen Ende September beleuchtet und dessen Bedeutung im politischen Zusammenhang eingeordnet werden.
Die Proteste gegen Stuttgart 21 lassen sich als klassische soziale Bewegung kategorisieren. “Eine soziale Bewegung ist ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen.???1 In diesem Fall ist das Ziel ganz eindeutig die Verhinderung des Baus des neuen Bahnhofes. Verschiedenste Akteure haben sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben. Die Bewegung ist wie die meisten sozialen Bwegungen also alles andere als homogen. Da demonstriert die liberale Unternehmerin mit dem Schüler und der Autonomen. Und allzu oft befürchtet der eine Teil der Bewegung wegen eines anderen Teils in ein und dieselbe Schublade gesteckt zu werden.
Die am meisten gefürchtete Schublade ist natürlich die der „Chaoten“, der „Spinner“, der Radikalen. In den Nachtnachrichten am Donnerstag, den 30.09.2010 wurde ein weiteres Mal gezeigt, dass Menschen wohl doch nicht alle von Natur aus gleich sind – jedenfalls nicht für die bürgerlichen Medien. Die RTL- Sprecherin berichtete schockiert über die Polizeigewalt in Stuttgart, die 300 Verletzte auf Seiten der Stuttgart 21- GegnerInnen forderte. Es seien diesmal keine Chaoten gewesen, sondern ganz normale Bürger, war der erschütterte Tenor aller Massenmedien, die mehrheitlich die Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und alte Menschen anprangerten. Nur einige wenige ließen sich auf die Argumentation der Polizei ein, die das Werfen von Pflastersteinen zum Anlass nahmen die Proteste anzugreifen. Am Tag darauf entpuppten sich die Pflastersteine zwar als Kastanien, aber dennoch blieb die Polizei bei der Aussage, dass die DemonstrantInnen äußerst aggressiv gewesen seien. Ein Polizeisprecher meinte des Weiteren, wenn die Demonstrierenden sich nicht rechtlich einwandfrei verhielten, “dann kann die Polizei auch mal hinlangen.???2

Bürgerrechte – Chaoten ausgeschlossen!

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird also an ganz klare Bedingungen geknüpft. Der unausgesprochene Herrschaftsvertrag zwischen dem bürgerlichen Staat und den BürgerInnen beinhaltet, dass der Mensch auf seine natürliche Freiheit zugunsten der bürgerlichen Freiheiten verzichtet und der Staat diese wiederum zu schützen hat. „Der Bürger“ wird jedoch schnell zum Chaoten, wenn er bestimmte Grenzen überschreitet. Dann kann ihn die Exekutive auch behandeln wie einen Chaoten. In diesem Fall ist die Grenze nicht schwer zu bestimmen: Die GegnerInnen des Projektes greifen abstraktes Eigentum an. Im bürgerlichen Rechtsverständnis gibt es kaum etwas Wichtigeres als das Recht auf Eigentum. Abstrakt ist es in diesem Fall deswegen, weil der Bahnhof noch nicht gebaut ist, die InvestorInnen dennoch bereits zum Beispiel über die Bäume, die dafür gefällt werden müssen, verfügen können. Wer Eigentum angreift, wird zum Gegner und dabei spielt es keine Rolle, ob die Aktivistin/der Aktivist bewusst oder unbewusst so handelt. Wie oft erleben radikale Linke auf Demonstrationen die Polizeigewalt, die die Stuttgarter an diesem Donnerstag Nachmittag erfahren mussten. Doch bei ihnen ist die Rechtfertigung einfach und für die Mehrheit der Bevölkerung nachvollziehbar. Sie haben eine Grenze überschritten, die Staatsmacht nicht anerkannt, Eigentum beschädigt oder sie bzw. ihr  Protest wird von Beginn an delegitimiert.

Polizeigewalt – Skandalöse Normalität

Teile der sozialen Bewegungen, leisten zwar oft sinnvolle Kritik an den „Auswüchsen“ polizeilichen Handelns, akzeptieren aber insgesamt die Normalität der staatlichen Gewaltausübung. Zum Teil trifft dies zu auf eine aktuellen Kampagne von amnesty international (ai) zur Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen in Deutschland. In einem Interview mit einer Vertreterin von ai kommentiert der Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) dieses Anliegen wie folgt: „Natürlich muss staatliches Handeln in einem Rechtsstaat immer überprüfbar sein. Aber dazu bedarf es nicht der Kennzeichnungspflicht. Die Polizei bei uns in Deutschland geht offen mit dem Bürger um, wird vom Bürger bezahlt und orientiert sich immer am Bürgerwillen. Wir genießen eine sehr große Zustimmung in der Öffentlichkeit. Darauf sind wir stolz. Im Alltag spielt die Frage nach der Kennzeichnung keine Rolle, und viele Polizisten sind auch im Alltag mit Namensschild versehen. Die Diskussion um die Kennzeichnungspflicht kommt nur bei geschlossenen Einsätzen auf, typischerweise bei Demonstrationen, wie etwa am 1. Mai in Berlin oder Hamburg. Die Polizei sieht bei diesen Einsätzen durch ihre Schutzkleidung martialisch aus. Diese Schutzkleidung ist aber lebensnotwendig, denn die Gewalt gegen die Polizei wächst und wird immer brutaler.“3
In dem Interview mit der Überschrift „Niemand ermittelt gern gegen sich selbst“ demonstriert die Polizei ebenfalls offen ihre Unterscheidung zwischen „Bürgern“ und den „Chaoten“, wie eben solche am 1. Mai. Spätestens nach der Veröffentlichung von mehr und mehr Videos, bei denen Polizeibeamte bei der Gewaltanwendung gegenüber friedlichen DemonstrantInnen oder Unbeteiligten gezeigt wurden, hat sich das Bild vom Freund und Helfer in Deutschland zwar ein wenig verschoben, unterliegt aber bei weitem noch keiner allgemeinen Kritik. Einig scheinen sich alle darin, dass friedlich Protestierende, Kinder, alte Menschen und vor allem Unbeteiligte nicht zum Opfer von Polizeigewalt werden dürfen.
Doch was ist mit den Menschen, die ihre Rechte als Bürger scheinbar verspielt haben? Darf die Polizei die Rentnerin bei Stuttgart 21 nicht zusammenschlagen, einen schwarz gekleideten Jugendlichen am 1. Mai in Berlin aber schon? Vielleicht haben die DemonstrantInnen in Stuttgart aus diesem Vorfall gelernt, kritischer zu sein und die öffentliche Meinung auch einmal in Frage zu stellen. Wahrscheinlicher ist aber leider, dass durch die Skandalisierung, die ihnen zugestanden wurde der „alltägliche Wahnsinn“ erst einmal weiter Normalität bleibt.

1 Rucht, Dieter: „Modernisierung und neue soziale Bewegungen“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1994, Seite 77
2 http://www.taz.de/1/zukunft/schwerpunkt-stuttgart-21/artikel/1/erste-baeume-werden-gefaellt
3 http://www.amnesty.de/journal/2010/august/niemand-ermittelt-gerne-gegen-sich-selbst?destination=node%2F2

Erschienen in barricada – November 2010