Organisierte Befragungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse

Ein paar Worte zur Geschichte und Aktualität, zum Sinn, Zweck und zu den Voraussetzungen organisierter Befragungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse

Lasst uns bei den Ursprüngen beginnen. Der Ansatz organisierte Befragungen/Untersuchungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse durchzuführen, ist so alt wie die ArbeiterInnenbewegung und die revolutionäre Linke selbst. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse galt und gilt es zu verbessern, ihre Ausbeutung durch das Kapital abzuschaffen. Denn die ArbeiterInnenklasse ist die gesellschaftliche Mehrheit und die einzige gesellschaftliche Kraft, die aufgrund ihres Alltags im Kapitalismus irgendwann Willens und in der Lage sein könnte, dem System aus Ausbeutung und Unterdrückung den Garaus zu machen. Diese Klasse zu erforschen, mit ihr zu kommunizieren, ist deshalb damals wie heute für alle, die ernsthaft eine Veränderung oder Abschaffung der kapitalistischen Ordnung anstreben, eine Notwendigkeit. Nahezu seit Anbeginn des Kapitalismus hat es deshalb, von reformorientierten und revolutionären Ansätzen, Befragungen/Untersuchungen innerhalb der ArbeiterInnenklasse als Mittel den Kampf voranzubringen gegeben.

die Arbeiteruntersuchung

So hat bereits 1880 ein gewisser Karl Marx für die französische Zeitung „Revue Socialiste“ einen „Fragebogen für Arbeiter“ verfasst. Ziel seiner über einhundert Fragen war es, von den ArbeiterInnen umfassende Informationen über die Arbeits- und Lebensbedingungen der französischen ArbeiterInnenklasse zu bekommen. Mit einer Veröffentlichung und Skandalisierung der Untersuchungsergebnisse sollte die Regierung zu Reformen, insbesondere zur Einführung von Arbeitsschutzbestimmungen, gezwungen werden. Über diese politische Zielsetzung hinaus achtete Karl Marx darauf, seinen Fragebogen so aufzubauen, dass die befragten ArbeiterInnen durch Formulierung und Fragestellung gezwungen wurden, sich mit ihren Arbeits- und Lebensbedingungen, sowie der Herrschaft der KapitalistInnenklasse auseinanderzusetzen. Desweiteren sollten die Befragten animiert werden, über ihre Erfahrungen und die Möglichkeit, ihre Situation selbst zu verändern, nachzudenken. Der Fragebogen, der übrigens damals an mangelnder Beteiligung gescheiterten Umfrage, hatte also einerseits wie viele der ihm folgenden Entwürfe neben der Information und  Erkenntnisbeschaffung für die BefragerInnen, Hilfestellung zur Herausbildung einer auf Verankerung abzielenden politischen Ausrichtung, sowie der allgemeinen politischen Zielsetzung der Befragung, auch die Agitation der Befragten und die Herausbildung kollektiver Positionen innerhalb der ArbeiterInnenklasse zum Ziel.

und wie ging es dann weiter?

Vielfach mit direkten, indirekten, aber auch ohne jeden Bezug auf diesen Versuch, folgten international und bis heute immer neue Ansätze organisierter Befragungen. Umfragen führten und führen bis heute sozialistische und kommunistische Parteien, Autonome, Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften, wie Basisgruppen, anarchistische Ansätze, Jugendorganisationen, Stadtteil – wie Betriebsgruppen, theoretische Zirkel und praktische Ansätze, sowie die in ländlichen Gebieten Mexikos operierende Zapatistas durch. Die EZLN wendet sich mit ihren Umfragen allerdings in erster Linie an die Klasse der Bauern und Bäuerinnen, in der die zapatistische Guerilla verankert ist.

und was ist das Ziel all dieser Umfragen?

Mit Hilfe von Umfragen wurden und werden Informationen und Erkenntnisse gewonnen, kollektive Standpunkte entwickelt, wurde und wird agitiert, die Bereitschaft zum Kampf erforscht und hergestellt oder deren Abwesenheit festgestellt und die Gründe dafür erforscht.
Mit Hilfe von Befragungen können strategische, inhaltliche wie praktische Fragen geklärt werden und es kann eine kollektive Ausrichtung innerhalb von größeren und kleineren Teilen der ArbeiterInnenklasse hergestellt werden. Befragungen können Kampagnen vorausgehen, Arbeits- und Lebensbedingungen offenlegen, eine Linie hervorbringen, bestätigen oder deren Fehlerhaftigkeit untermauern. In Umfragen können allgemeine oder ganz konkrete, zuweilen auch persönliche Fragen gestellt werden. Befragungen können konkreten Aktionen vorausgehen, deren Fortsetzung, wie der Abbruch der selben kann durch diese beschlossen werden. Durch eine gut vorbereitete und vernünftig durchgeführte Umfrage soll ein dialektisches Verhältnis zwischen BefragerInnen und Befragten hergestellt werden und sie kann durch den kollektiven Prozess eine punktuelle oder anhaltende Einheit zwischen dem inhaltlichen und strategischen Denken von Teilen oder der Gesamtheit der ArbeiterInnenklasse mit den organisierten RevolutionärInnen herstellen, welches Voraussetzung auch für kleinste Erfolge ist.

und in der BRD?

Auch hier fand und findet das Konzept Umfrage/Befragung/Untersuchung Anklang.
Neben Gewerkschaften, Parteien, sdaj, Attac und anderen Ansätzen, fand das Konzept der Befragung vor allem in jenen Teilen der undogmatischen und autonomen Linken Anklang, die sich als Teil der Arbeiterinnenklasse verstanden und verstehen.
Die Idee schwappte hier aus der italienischen Autonomia Bewegung in die zu dieser Zeit noch westdeutsche revolutionäre Linke über. In den `70ern griffen Organisationsansätze, wie die im „Wir wollen alles“ Spektrum verankerte „Proletarische Front“ und in den `80ern die um die Zeitschrift Wildcat vernetzten autonomen Ansätze, die aus Italien importierte Idee der militanten Untersuchung auf. Als Mittel der Informationsgewinnung, Erforschung, kollektiven Bewusstseinsbildung und Agitation sollten und wurden vom Wildcat Netzwerk Untersuchungen inner- und außerhalb von Betrieben in der ArbeiterInnenklasse durchgeführt. Ziel dieser an Leben und Kämpfen eingebundenen Analysen war es unter anderem, die Klassenzusammensetzung zu erforschen, den perspektivisch kämpferischsten Teil der Klasse zu erkennen, um gestützt auf diese Erkenntnisse die Kämpfe voraussehen und vorantreiben zu können. Waren diese Untersuchungen zu Beginn noch mit einer konkreten Praxis in Erwerbslosen und Jobberinitiativen und in folgedessen auch auch in Betrieben verbunden und verfolgten konkrete Ziele, wurden die Ansprüche zuletzt immer höher geschraubt. Diskussionen wurden immer abstrakter und Zielsetzungen beständig höher gesetzt. Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander und die angestrebten großen Untersuchungsprojekte konnten, unter anderem auch auf Grund mangelnder Organisierung, oftmals nicht mehr in eine entsprechende Praxis umgesetzt werden.

eine Art Zwischenbilanz

Untersuchungen in Fabriken, in Bildungseinrichtungen, in Wohnvierteln, in größeren und kleineren Teilen der ArbeiterInnenklasse, wurden in vielen Ländern durchgeführt und finden auch heute immer wieder statt.
Angesichts dieser historisch weit zurückreichenden praktischen Erfahrung und aktuellen Praxis, ist es gar nicht so einfach zu erklären, warum Befragungen und Untersuchungen in der Geschichtsschreibung der ArbeiterInnenbewegung – wie der der revolutionären Linken in Deutschland, bis heute eher eine marginale Rolle spielen und diese Umfragen ein wenig untersuchtes Kampfmittel  darstellen.
Eine wichtige Rolle könnte hier die Tatsache spielen, dass die meisten marxistisch/leninistischen Ansätze sich als von außerhalb der ArbeiterInnenklasse stehende und operierende Kraft verstanden und verstehen, deren Rolle es als Avantgarde ist, von außen entwickelte Inhalte, Strategie und Taktik, sprich Bewusstsein, in die ArbeiterInnenklasse hineinzutragen. Für sie war daher und ist in vielen Fällen auch heute noch die Funktion von Befragungen meist auf Agitation, Informationsgewinnung und Bestätigung der eigenen Linie und Praxis reduziert. Entsprechend wurden andere Aspekte von Befragungen, wie die kollektive Erarbeitung von Positionen, Mitsprache der ArbeiterInnen etc., unterschätzt und den Möglichkeiten die Umfragen eröffnen können, eine zu geringe Bedeutung beigemessen.
Noch viel weiter entfernt von einer dialektischen Betrachtung von Befragung und Umfragen ist mit Sicherheit der größte Teil des Funktionärsapparates der DGB-Gewerkschaften. Befragung dient hier ausschließlich der Bestätigung der von oben vorgegebenen Linie. Wo sich daran nicht gehalten wird, die Basis eigene Wege geht, wie im Falle eines ÖTV-Streiks vor Jahren, dessen Abbruch die Mehrheit in einer Urabstimmung einst nicht befürwortete, werden von der Leitung zur Not entgegen der Beschlusslage Fakten geschaffen.
Andere aus der undogmatischen revolutionären Linken hervorgegangene Ansätze waren wiederum meist zu klein bzw. zu marginal, konnten ihre Vorstellungen oftmals nur ansatzweise, nicht oder nur in gesellschaftlich wenig wahrnehmbaren Ausmaß umsetzen und verfügen selbstverständlich auch über keine einfach zugängliche eigenständige Forschung und Geschichtsschreibung.
Wir können an dieser Stelle, allein schon aus Platzgründen, dieses Manko natürlich auch nicht aufheben und so bleibt weitergehend Interessierten in dieser Hinsicht wohl nur die Option, eine Befragung älterer GenossInnen durchzuführen, das Internet abzugrasen oder die Möglichkeit, sich in ein Archiv oder eine Linke Bibliothek zu begeben und selbst nachzuforschen.

um die Sache rund zu machen

Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle resümieren:  Wie schon angerissen, können wir hier weder umfassend über alle bis heute durchgeführten Befragungen berichten, noch können wir im Detail aufarbeiten, warum einzelne Befragungen erfolgreich waren und andere scheiterten. Wir hoffen jedoch, dass wir euch einen Einblick bieten konnten und euer Interesse geweckt haben.
Befragungen, egal ob sie als ArbeiterInnenuntersuchung, militante Untersuchung oder politische Umfrage daherkommen, sind sicherlich kein Allheilmittel, um sämtliche Probleme der revolutionären Linken und der ArbeiterInnenklasse in diesem oder in anderen Ländern zu lösen. Sie sind jedoch mit Sicherheit ein Kampfmittel, auf das die revolutionäre Linke in keinem Land der Erde auf Dauer verzichten sollte. Denn, und das ist wichtig, denkt deshalb immer daran: Es kann die Befreiung der ArbeiterInnen nur das Werk der ArbeiterInnen sein!

Erschienen in barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Juli/August 2014