Nordirland – ein jahrhunderte alter Konflikt.

Wieder gingen Bilder durch die Presse, die den Widerstand zumeist junger Menschen in Nordirland gegen den alljährlich stattfindenden Marsch der „Oranier“ durch die republikanischen Viertel zeigten. Die Medien deklarieren diesen Konflikt auch nach der langen Zeit des schwelenden Konflikts und auch wider besseren Wissens nach wie vor als religiöse Auseinandersetzung. Dass die Situation in Irland noch nie eine rein religiöse Frage war, ist jedoch mittlerweile weitreichend bekannt.
Doch was genau treibt die heutige Jugend auf die Straße? Ist der Schlüssel zu ihrem Hass tatsächlich ein uralter Vertrag zwischen England und Irland? Wollen sie nach wie vor die Wiedervereinigung Irlands? Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die Geschichte des Inselstaates gegeben werden und der Konflikt als das beleuchtet werden, was er schon immer war und auch heute noch ist – eine soziale Frage.

Die Bedeutung des Oranier Marsches

Aufstände gegen die britische Besetzung gab es in Irland immer wieder. 1689 wurde die Stadt Derry von den Iren belagert. Diese Belagerung gilt noch heute bei den Briten als der Inbegriff der Bedrohung der britischen Protestanten durch die irischen Katholiken. Die Überwindung der Belagerung und die Rückgewinnung des abtrünnigen Irland durch Wilhelm von Oranien in der „Battle of the Boyne“ (1. Juli 1690) wird bis zum heutigen Tag alljährlich mit großem Aufwand von den Unionisten – der Oranier-Orden ist dabei die aktivste Vereinigung – gefeiert. Jedes Jahr finden in den Sommermonaten in einigen Ortschaften Nordirlands Paraden der Oranier statt, die in ihrer Route auch bewusst durch republikanische Stadtviertel verlaufen. Für die republikanische Minderheit stellen diese Aufmärsche eine reine Machtdemonstration dar, die die Kolonialisierung Irlands durch die englische Krone zelebrieren.
Die nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1689 folgenden Strafmaßnahmen gegen die KatholikInnen (enthalten in den Penal Laws) führten im 17./18. Jahrhundert zu einer weitgehenden Entrechtung der Iren. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern war auf Anhänger der Anglikanischen Kirche beschränkt. Der Grundbesitz wanderte kontinuierlich in britische Hände (um 1600: irischer Grundbesitz 90 %, um 1700: nur noch 10 %). Am Ende des 18. Jahrhundert wurden zahlreiche Unabhängigkeits- und loyalistische Bewegungen gegründet. Nach einer erneuten Rebellion im Jahre 1798 schaffte der Act of Union (1800) die noch verbliebenen begrenzten Mitspracherechte der Iren ab. Das Dubliner Parlament wurde aufgelöst, so dass von nun an die Gewalt über Irland in London lag. Zahlreiche Gesetze wurden erlassen, welche die wirtschaftliche Entwicklung der Iren hemmten und zur Verarmung eines Großteils der Bevölkerung führten.
Die katholische Minderheit wurde passiv ignoriert und aktiv ausgegrenzt. Das beweist z.B. das Kommunalwahlrecht, welches eine Art Zensurwahlrecht war. Die Wahlberechtigung war an Hausbesitz und Steueraufkommen geknüpft. Ein Unternehmer – i.d.R. ein Protestant, also Brite – konnte beispielsweise bis zu sechs Stimmen bekommen. Sozial schwache Personen – größtenteils Iren – bekamen im ungünstigen Fall gar keine Stimme. Außerdem wurden die Wahlkreise manipuliert, d.h. die Wahlkreise wurden so zugeschnitten, dass eine möglichst große Zahl von Katholiken in einem Wahlkreis zusammengefasst wurde, während in protestantisch dominierten Gebieten Wahlkreise mit möglichst geringer Einwohnerzahl eingerichtet wurden.
Es folgten Jahre der Aufstände und im Zuge des ersten Weltkrieges, in dem England das Augenmerk auf die Front gegen Deutschland legen musste, gelang es der irischen Republik ihre Unabhängigkeit von der Krone zu erkämpfen. Bereits damals spielte die Irish Republican Army (IRA) eine bedeutende Rolle. Ihr politischer Arm, die Sinn Fein (gälisch: wir selbst) konnte nun die irischen Interessen im Parlament vertreten. Diese Unabhängigkeit, der 1948 dann auch der Austritt Irlands aus dem Commonwealth folgte, galt jedoch nur für die 26 südlichen Grafschaften. Die „six counties“ im Norden bekannten sich mehrheitlich nach wie vor zu Großbritannien. Die Lage der irischen Minderheit im Norden war von sozialer Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit geprägt.
Als in Europa 1968 vermehrt Menschen für ihre Interessen auf die Straße gingen, erlebte auch die Bürgerrechtsbewegung in Irland einen immensen Aufschwung. Ging es den alten republikanischen Avantgardisten, wie James Conolly auch immer um eine sozialistische Perspektive, fand man dieses Moment in den späteren Kämpfen eher weniger vor. Die sozialen Probleme, wie massive Arbeitslosigkeit, rechtliche Benachteiligung etc. sollten über die Frage nach dem eigenen Nationalstaat geklärt werden. Die Proteste endeten nicht selten blutig. Traurige Berühmtheit erlangte ein Bürgerrechtsmarsch in Derry, auf den die britische Armee das Feuer eröffnete und 13 Menschen den Tod im Kugelhagel fanden. Laut Angaben der Verantwortlichen Offiziere hätten sie sich nur verteidigt. Spätere Recherchen brachten aber genau das Gegenteil ans Licht.
Die in dieser Zeit wiederbelebte IRA führte von da an einen Guerillakrieg gegen die Besatzer und es herrschten über Jahrzehnte bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Aufstände, Riots, Hungerstreiks der politischen Gefangenen prägten darüber hinaus das Bild.
Doch die Kämpfe blieben ohne durchschlagenden Erfolg. Die Iren waren des Krieges müde und nachdem die ersten „Friedensverhandlungen“, die wohl eher als Kapitulationsverhandlungen zu bezeichnen sind, von seiten der Sinn Fein und der Unionisten ausgehandelt wurden, legte die IRA die Waffen nieder. 2005 war die Entwaffnung der IRA an sich vollständig abgeschlossen. Doch es gab nach wie vor Teile der IRA, die sich von der Sinn Fein und anderen Kräften, die den „Friedensvertrag“ unterzeichnet hatten, verraten fühlten. So führt die „Real IRA“ und die „Continuity IRA“ auch heute noch vereinzelt militante Aktionen durch, die aber selbst bei den Iren mehrheitlich keinen Rückhalt mehr finden.
Doch es gibt neue Ansätze: Sozialistisch-republikanische Organisationen wie IRDP oder Eirigi verurteilen zwar das Friedensabkommen als historischen Ausverkauf, haben aber die Notwendigkeit einer Feuereinstellung erkannt und streben den Aufbau einer Massenbewegung an, die die britische Herrschaft in Frage stellen kann.

Alte neue Probleme

Das größte Problem, welches vor allem den sozialen Zündstoff nach wie vor in sich birgt, ist die Massenarbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut im irischen Teil der Bevölkerung im Norden. Im Schnitt sind in Derry 36 % der KatholikInnen arbeitslos, aber nur 14 % der ProtestantInnen. In anderen Städten sieht es ähnlich aus.
Im nationalistischen Arbeiterviertel von Westbelfast liegt der Anteil der Kinder, die unter der Armutsgrenze leben sogar bei 77%. Im benachbarten West Tyrone sind es 52% und in Fermanagh und South Tyrone jeweils 49% der Kinder. Und die Lebenshaltungkosten steigen gerade nach der Krise massiv und belasten die ArbeiterInnenfamilien mehrfach. So wurde der Strom – und Gaspreis von führenden Nordirischen Stromversorgern im vergangenen Jahr um rund 100 % erhöht.
Diese Verhältnisse wollten die noch agierenden Guerillagruppen nicht ohne weiteres hinnehmen und setzten darauf, durch eigene Aktivitäten schnell Massenaktionen auslösen zu können. Doch sie hatten sich verkalkuliert. Die auf Guerillaaktionen folgende verschärfte Unterdrückung führt nicht automatisch zu gesteigertem Kampf. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen haben die Guerillaaktionen der britischen Seite eher Propagandamunition geliefert und auch die die Regierungsparteien nutzten  sie, um sich als die Wächter des Friedens zu profilieren.
Trotz einzelner Revolten, wie den Straßenschlachten gegen den Marsch der Oranier, ist die Mehrheit in Nordirland nach wie vor kampfesmüde, fühlt sich von ihren so genanten FürsprecherInnen verraten und ist eher in einer ähnlichen Resignation gefangen, wie das Proletariat vieler Länder. Aktuell wird Irland an beiden Seiten der Grenze durch eine Rezessionskrise aufgerollt. Ein politisches Bewusstsein, das sich eher über die soziale Frage definiert als über den reinen antikolonialen Befreiungskampf ist für die Lohnabhängigen dort auf alle Fälle unersetzbar. Ein Blick in die krisengebeutelte Republik Irland zeigt, dass eine kapitalistische Nation nicht mehr als ein geringeres Übel darstellen kann.

Erschienen in barricada – August/September 2010