Ein Hologramm wird abgeschaltet
Der Subcomandante Insurgente Marcos (EZLN) erklärte im Mai 2014 das Ende seiner Existenz. Ein Ausflug in die Realität in mehreren Splittern.
In einem schlichten Restaurant an der Alameda Central, Mexiko-Stadt
Ernesto lacht sein Gegenüber an und fragt: „In welchem anderen Land wäre das möglich? Justicieros wollen Menschen organisieren und daraus ergibt sich keine weitere Geschichte um gescheiterte Robin Hoods, kein weiterer tragischer Kampf einer maoistischen Guerilla gegen die scheiß Staatsmacht, sondern nach ein paar Jahren besetzen tausende Rebellen die Städte ihres Bundesstaats und bewegen damit das ganze Land.“
„Und sie erreichen und agitieren Menschen auf der ganzen Welt.“
„So ist es, mein Freund! Mit einer großen Geste – einem bewaffneten Aufstand, einem unglaublich schlecht bewaffneten Aufstand übrigens, aber viel mehr noch mit dem was sie sagen und schreiben und täglich tun. Was ich dir sagen wollte: Das ist nur in Mexiko möglich, dass der Sprecher dieser wunderbaren rebellischen Armee von seinen Unterhaltungen mit einem Käfer berichtet.“
„Ah, Don Durito de La Lacandona, der edle nikotinsüchtige Ritter, der auf einer Schildkröte reitet. Bei Kindern nennt man das einen imaginären Freund.“
„Bei Erwachsenen nennt man das eine literarische Figur. Du weißt, dass der Subcomandante Marcos Duritos Schildknappe ist, oder? Die ganze Geschichte könnte ein Roman sein, ein Roman über Gerechtigkeit. Hier ist sie Realität.“
Ernesto strahlt über das ganze Gesicht, während er redet, und seine weit geöffneten Augen leuchten begeistert. Er war in Chiapas, an jenem 1. Januar 1994. Zufällig, um zu arbeiten, und hat dort Freunde wiedergetroffen. Freunde, die viele Jahre lang verschwunden gewesen waren.
Der Kellner, der vorbeikommt um Ernestos Kaffeegläser abzuräumen, beachtet weder das Gespräch noch die ungewöhnlichen Gesprächspartner, während Ernesto angeregt weiterredet und sein Gegenüber den Kopf zur Seite neigt und ihn freundlich anblickt, ganz so als würde er verstehen. Wir sind in Mexiko.
Ein paar Jahrzehnte vorher und einige Kilometer weiter nördlich. Platz der drei Kulturen, Tlatelolco, Mexiko-Stadt.
Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Mexiko im Herbst 1968 ist die Regierung entschlossen, die Proteste der Studierenden zu beenden. Armee und Polizei besetzen den Campus der UNAM. Sie greifen auch das Politechnische Institut an. Der Campus Zacatenco kann nach heftigem Widerstand der Studierenden eingenommen werden, den Campus Santo Tomas greift die Staatsmacht am Nachmittag des 23.September an. Die StudentInnen dort sind allenfalls mit Molotov-Cocktails und Kleinkaliberpistolen bewaffnet. Die Schlacht dauert trotzdem bis in die Morgenstunden des 24. September.
Am 2. Oktober versammeln sich etwa 10.000 Menschen, zum guten Teil Studierende, zu einer Protestkundgebung auf dem Platz der drei Kulturen in Tlatelolco. Scharfschützen eröffnen auf Leuchtsignale hin das Feuer auf KundgebungsteilnehmerInnen und die Nachbarschaft. Später werden die Regierung und die bürgerlichen Medien diese Schüsse den Studierenden zuschreiben und als Rechtfertigung für das anschließende Vorgehen der Armee verkaufen. Die Armee beginnt in die sich rasch auflösende Menge zu feuern, Polizei und Angehörige der staatlichen Paramilitärs vom Batallón Olimpia hindern die Flüchtenden am Verlassen des Ortes und nehmen Hunderte fest. Auf dem Platz der drei Kulturen sterben an diesem Tag zwischen 200 und 400 Menschen. In der Nacht gehen das Morden und die Festnahmen weiter. Armee, Polizei und Paramilitärs durchsuchen die Wohnungen aller angrenzenden Gebäude nach KundgebungsteilnehmerInnen, die sich dorthin geflüchtet hatten. Das Massaker, begangen mitten in der Hauptstadt, mit zahlreichen Opfern aus der sogenannten Mittelschicht, erschüttert Mexiko. Neben den bereits operierenden Guerillaorganisationen entstehen weitere Stadt- und Landguerillagruppierungen.
Knapp drei Jahrzehnte später in Acteal, Municipio Chenalhó, Chiapas, Mexiko.
Am 22. Dezember 1997 versammeln sich Mitglieder der sozialen und religiösen Basisbewegung Las Abejas (Die Bienen) am frühen Morgen in einer kleinen Kirche in Acteal. Gemeinsam mit ihren Kindern wollen sie sich besprechen, sich über kollektive Aufgaben austauschen, vor allem aber wollen sie beten. Las Abejas nehmen die Religion sehr ernst. Sie sind hauptsächlich Tzotzil Maya und teilen die Ziele des EZLN, lehnen aber den bewaffneten Kampf ab, wie überhaupt jede Gewalt. Zwar wollen sie ihren Honig kollektiv produzieren, kollektiv genießen und mit allen teilen, die ihn brauchen, aber ihre Bienenkönigin ist der christliche Gott – und der sagt ihnen nunmal (in dieser Version der lateinamerikanischen katholischen Theologie), dass er Vergebung will und Gewaltlosigkeit im Kampf gegen die Ungerechtigkeit.
An diesem 22. Dezember postieren sich mehrere dutzend Mitglieder der paramilitärischen Organisation Mascara Roja um die Dorfkirche. In Absprache mit den in der Nähe stationierten Polizei- und Militäreinheiten beginnen die Paramilitärs, die der Regierungspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) nahestehen, die Betenden in der Kirche zu beschießen. Das Massaker dauert mehrere Stunden. Am Ende sind die dreijährige Margarita Vazquez Luna, die 35jährige Nanuela Paciencia Moreno, der 22jährige Victorio Vazquez Gomez und 42 weitere Menschen im Alter zwischen acht Monaten und 67 Jahren, nicht mehr am Leben.
Einige Monate später, wieder an der Alameda Central, Mexiko-Stadt
Ernesto: „Du hast hier in Mexiko ein autoritär-korporatistisches Modell. Das heißt, die gesellschaftlichen Widersprüche sollen innerhalb eines gigantischen Apparates beigelegt werden.
Die Präsidenten sind schon lange nicht mehr Revolutionsmilitärs, die ab und zu den Imperialisten in die Suppe spucken. Nein, das sind neoliberale Technokraten, die die paar Errungenschaften der Revolution, die umgesetzt wurden, abschaffen wollen. Nach sechs Jahren Präsidentschaft bist du ein paar Milliarden Dollar reicher. Der Nächste ist an der Reihe, mit dem selben Programm. Und der Apparat, das ist bei uns der Staat, ist der PRI, sind seine angeschlossenen Institutionen und Organisationen. Alles in allem werden die Widersprüche natürlich im Interesse des nationalen Kapitals verhandelt.
Du gründest eine unabhängige Gewerkschaft oder Bauernorganisation und willst deine Rechte gemäß der revolutionären Verfassung durchsetzen? Fein, dann bekommst du wahrscheinlich schnell das Angebot, dich einer vom PRI abhängigen Organisation anzuschließen oder in einen entsprechenden Dachverband einzutreten. Gerade den Führern von unabhängigen und revolutionären Organisationen macht der Staat gute Angebote. Sie bekommen Geld und Einfluss und vor allem: Sie bleiben am Leben. Wenn die Eingliederung in das institutionelle Monster nicht funktioniert, hast du schnell einen Krieg mit dem Staat am Hals. Mit seiner Partei und seinen Behörden, seinen Gewerkschaften, Campesinoorganisationen, seinen Drogenkartellen, seiner Polizei und seiner Armee. Du kannst dann unter Umständen zusehen, wie deine Organisation geschluckt, gespalten, gekauft, verwässert oder zerschlagen wird – oder du findest dich in den Bergen wieder, als Guerillero. Linke Opposition zu machen, ist kompliziert, mit so einem Feind. Aber du weißt schon: Der Kampf um Gerechtigkeit ist der einzige, der der Mühe wert ist.“
Im Mai 2014, La Realidad, Chiapas, Mexiko
Anfang des Monats wird der zapatistische Lehrer José Luis Solís Lopez (Galeano) in La Realidad ermordet. Die Täter sind Mitglieder des paramilitärischen Arms der Central Independiente de Obreros Agrícolas y Campesinos Histórica (CIOAC-H).
Der EZLN beschließt, den Tod zu betrügen, um Galeano weiterleben zu lassen. Die Zapatistas nutzen hierzu die Erklärung des Subcomandante Insurgente Marcos, Sprecher des Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees – Generalkommandantur des EZLN, „Zwischen dem Licht und dem Schatten“, Ende Mai 2014:
„Wir denken, dass es notwendig ist, dass jemand von uns stirbt, damit Galeano weiterleben kann. Und um diesen aufdringlichen Tod zufrieden zu stellen, müssen wir ihm an Galeanos Stelle einen anderen Namen vorsetzen, so dass dieser leben kann und der Tod nicht ein Leben nimmt, sondern nur einen Namen, einige Buchstaben, von jeder Bedeutung entleert, ohne eigene Geschichte, ohne Leben. So haben wir uns entschieden, dass Marcos ab heute aufhört zu existieren.“
Subcomandante Marcos, Zwischen dem Licht und dem Schatten
Die anonyme Kunstfigur Marcos, ein Hologramm, das einem Kollektiv zwei Jahrzehntelang als Sprachrohr diente, löst sich auf. Mit ihm geht der heldenhafte Käfer Durito.
Wer nun erwartet hatte, wir würden hier die Hintergründe dieses Schrittes erörtern wollen oder mehr zu Marcos´ Erklärung berichten, hat sich getäuscht. Die schöne Rede „Zwischen Licht und Schatten“ aus der Realität lest ihr doch bitteschön selbst. Kritisch, natürlich, und begeistert, wie es die LeserInnen der barricada stets sind.
Das letzte Wort hat der verblichene Subcomandante:
„Vielleicht stimmt es. Vielleicht haben wir uns geirrt, als wir wählten, das Leben zu pflegen, anstatt den Tod anzubeten. Aber wir wählten, ohne auf die Stimmen von draussen zu hören. Die, die immer den Kampf auf Leben und Tod fordern, wobei die Toten immer von den anderen gestellt werden. Wir wählten, wir schauten uns an und wir hörten uns an, wir waren der gemeinschaftliche Beschützer, der wir sind. Wir wählten die Rebellion, das heisst, das Leben. Das heisst nicht, dass wir nicht wüssten, dass der Krieg von Oben versuchen würde und versucht, uns seine Vorherrschaft neuerlich aufzuzwingen. Wir wussten und wir wissen, dass wir ein ums andere Mal das verteidigen müssen, was wir sind und wie wir sind. Wir wussten und wir wissen, dass es weiterhin Tote geben wird, damit es Leben gebe. Wir wussten und wir wissen, dass wir um zu leben sterben.
Nichts von alledem, was wir gemacht haben, sei es zum Guten oder zum Schlechten, wäre möglich gewesen, wenn nicht eine bewaffnete Armee, die zapatistische der nationalen Befreiung, die Waffen ergriffen hätte gegen die schlechte Regierung, unter Anwendung des Rechts auf legitime Gewalt. Die Gewalt derer von Unten gegen die Gewalt von Oben. Wir sind Krieger und als solche wissen wir um unsere Rolle und unsere Zeit.
Im Morgengrauen des ersten Tages des ersten Monats des Jahres 1994 ist eine Armee von Riesen, das heisst, von rebellischen Indigenen in die Städte hinabgezogen um mit ihrem Schritt die Welt zu erschuettern.
Nur einige Tage später, das Blut unserer Gefallenen war noch frisch, da merkten wir in den Strassen der Stadt, dass die von draussen uns nicht sahen. Gewohnt, die Indigenen von oben herab zu betrachten, erhoben sie den Blick nicht um uns anzuschauen. Gewohnt, uns geduckt zu sehen, verstand ihr Herz unsere würdige Rebellion nicht. Ihr Blick blieb auf dem einzigen Mischling hängen, der eine Gesichtsmaske trug, das heisst, sie schauten nicht. Unsere Chefs und Chefinnen sagten daher: `Sie sehen nur, wie klein sie sind, machen wir jemand so klein wie sie, dann werden sie den sehen, und durch diesen uns.` Und so begann ein kompliziertes Ablenkungsmanöver, ein riesiger und wunderbarer Zaubertrick, ein listiges Spiel des indigenen Herzens, welches wir sind, die indigene Weisheit forderte die Modernität in einer ihrer eigenen Bastionen heraus: den Kommunikationsmedien. Und da begann dann die Konstruktion einer Figur, die `Marcos` heisst.
Falls Sie erlauben, dass ich Ihnen einen Rat gebe: Sie sollten ein wenig Ihren Sinn für Humor pflegen, nicht nur zu Ihrem geistigen und körperlichen Wohlbefinden, sondern auch, weil Sie ohne Sinn für Humor den Zapatismus nicht verstehen werden. Wir sind überzeugt und unsere Praxis beweist, dass zur Rebellion und für den Kampf weder Führer noch Caudillos noch ein Messias noch Retter nötig sind. Um zu kämpfen, braucht es nur ein wenig Anstand, eine Menge Würde und sehr viel Organisation. Das Übrige: Entweder es nützt dem Kollektiv oder es ist nutzlos.“
Erschienen in barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Juli/August 2014