Der Mythos vom Wohlstand für alle! Deutschland 2014 – Exportmodell des Grauens!
Die Pressestelle des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie äußerte sich auf ihrer Homepage zur Lage der Nation im Mai 2014 überaus positiv und postuliert: „Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem breit angelegten Aufschwung“. Dies mag einige Menschen hierzulande überraschen, wenngleich diese Aussage durchaus richtig ist. Die Wirtschaft wächst! „Insgesamt hat sich die Erholung gefestigt und an Breite gewonnen. Sie wird maßgeblich von den binnenwirtschaftlichen Auftriebskräften getragen. Eine zentrale Rolle kommt dabei der guten Verfassung des Arbeitsmarktes zu. Positive Impulse kommen von den privaten und staatlichen Konsumausgaben und den Investitionen in Bauten. Dazu tragen die nach wie vor expansiv ausgerichtete Geldpolitik, günstige Finanzierungsbedingungen und eine weniger restriktive Konsolidierungspolitik der öffentlichen Haushalte bei. Die Staaten der Europäischen Union erholen sich noch vergleichsweise zögerlich“ schreibt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Das nahezu absurd anmutende Schauspiel der allmonatlichen Presseerklärungen des Wirtschaftsministerium scheint von einer Realität zu sprechen, von der große Teile der Bevölkerung nichts mitzubekommen scheinen.
Was ist da los? Wie kann das sein? Hier drängt sich die Frage auf, ob das vielgepriesene Wachstum in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung irgendetwas mit den Lebensbedingungen der Menschen zu tun hat, welche schließlich in ihrer Funktion als Arbeitskräfte für genau dieses zu sorgen haben? Auch die Unternehmen des Einzelhandels machen Luftsprünge. Sie hoben ihre Erwartungen für die Geschäftsentwicklung in den kommenden sechs Monaten im April wieder an. Die Pressesprecher des Paralleluniversums (sog. Wirtschaftsministerium) gehen noch weiter: „Vor dem Hintergrund anhaltend positiver Entwicklungen am Arbeitsmarkt und steigender Einkommen zeigt sich auch die Stimmung unter den Konsumenten bis in den Mai hinein auf hohem Niveau aufgehellt. Der private Konsum wird daher auch im weiteren Jahresverlauf der Konjunktur positive Impulse geben. Die Lage am Arbeitsmarkt verbessert sich im Zuge des konjunkturellen Aufschwungs weiter. Nach Ursprungszahlen gab es im März 41,81 Mio. Erwerbstätige im Inland, 372.000 mehr als vor einem Jahr. Die Zahl der Arbeitslosen sank mit 2,943 Mio. Personen wieder unter die Drei-Millionen-Schwelle.“
Auch hier muss die Frage erlaubt sein, ob das Ministerium uns plump anlügt wenn es von gestiegenen Einkommen oder von der niedrigsten Arbeitslosigkeit der Nachkriegsgeschichte spricht! Nein, es lügt uns nicht an. Der Trick ist, dass die Zahlen uns einen Scheißdreck verraten, welche Einkommen um wie viel und in welchem Verhältnis (Inflation) gestiegen sind. Auch bedeutet eine „niedrige Arbeitslosigkeit“ noch lange nicht, dass mensch das große Los gezogen hat. Menschen im sogenannten Niedriglohnsektor, ZeitarbeiterInnen, AufstockerInnen, SaisonarbeiterInnen, zweit und dritt JoblerInnen usw. können davon ein (bitteres) Lied singen. Mal abgesehen von den zahlreichen „arbeitsmarktpolitischen Instrumenten“, welche ausschließlich existieren um die Arbeitsmarktstatistik zu schönen und insbesondere junge Menschen über Jahre hinweg in vollkommen schwachsinnige „Qualifizierungscenter“ verschwinden lassen, erzählt jene Arbeitsstatistik in keinster Weise etwas über die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen, den Leistungsdruck und über die millionen von Arbeitsverträgen befristeter Art. Nicht, dass hier der Eindruck erweckt werden sollte, dass es auch nur in irgendeinem Sinne positiv wäre, an dem jetzigen Wirtschaftssystem zu partizipieren. Es muss aber die Lügenpropaganda des Wirtschaftsministeriums über ihr eigenes, dem Menschen feindlich gesonnenes Wirtschaftssystem und dessen angebliche soziale Errungenschaften entmystifiziert werden. Fakt ist: Die Wirtschaft wächst und die Menschen kämpfen um ihr Existenzminimum. Jugendarbeitslosigkeit und die damit verbundene Armut, Altersarmut, Armut durch Krankheit, Armut aufgrund der stetig steigenden Lebenshaltungskosten. Steigende Mieten, steigende Energiepreise, steigende Lebensmittelpreise. „Das Konsumklima hat sich verbessert“? Diesen Aliens aus dem Wirtschaftsministerium scheint entgangen zu sein, dass mensch gerne ein Dach über dem Kopf hat, im Winter nicht erfrieren möchte und etwas zum Fressen braucht. Dass mensch notgedrungen zum „Konsumieren“ verdammt ist, ist die eine Seite der Medaille. Dass sich hierdurch Abermillionen von Menschen kontinuierlich massiv verschulden, ist die andere Seite. Es soll hier nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass in vielen europäischen Staaten die Lage für die Bevölkerung um ein vielfaches gravierender ist. Das Prinzip des Wirtschaftens bzw. das nicht-Vergesellschaften des Erwirtschafteten ist dasselbe. In der neoliberalen Lohndumpingzone Europa hat der Kampf um die billigsten Arbeitskräfte erst begonnen. Manche Regionen liegen dennoch schon am Boden, anderen werden leistungssteigernde Verschuldungsprogramme gespritzt. Ganz Andere können sogar regional von dem großen Hauen und Stechen eine Zeit lang profitieren. Die sich daraus ergebenden Unterschiede sollen die EuropäerInnen darüber hinwegtäuschen, in was für einer ähnlichen Lage sie sich befinden.
Was nutzt es den Millionen von Menschen, welche Leistungen aus dem SGB II beziehen, dass Deutschland ein Bruttoinlandsprodukt von $ 3,593 Milliarden Dollar hat. Die ArbeiterInnen sollen sich glücklich schätzen, in einem Land zu leben, welches sogar ein Bruttoinlandsprodukt von $43.952 Dollar pro Kopf aufzuweisen hat. Doch was nützt es ihnen, wenn sie schon während des laufenden Monats kaum einen Cent im Geldbeutel haben um sich irgendetwas zu leisten. 2007 besaßen die reichsten 5 % der Bevölkerung in Deutschland 46% des Gesamtvermögens, das reichste Prozent bereits 23%. Mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung besaßen dagegen kein oder nur ein sehr geringes individuelles Nettovermögen. Die untersten 70 Prozent, der nach dem Vermögen sortierten Bevölkerung, haben einen Anteil am Gesamtvermögen von unter 9%.
Die Einführung der indirekten Arbeitspflicht, also der Eingriff des Staates in den Arbeitsmarkt durch Hartz VI, ist der Grund für die Verringerung der Arbeitslosenzahl. Wer was zum Fressen möchte, soll gefälligst arbeiten. Von Lohn wurde hier nie gesprochen. Ein Beschäftigungsphilosophie für SklavInnen – welche bekanntlich ohne Fressen nicht lange arbeiten können – ja, und das merken die nahezu 42 Millionen Menschen in Deutschland . Steigender Binnenkonsum und gute Inlandsnachfrage? Da kommen den geübten WirtschaftsanalystInnen die Tränen vor Lachen! Im Jahr 2000 lag der Umsatz im Einzelhandel noch bei 411 Milliarden Euro, 2013 lag er bei 432 Milliarden Euro – er ist also innerhalb von 13 Jahren um 21 Milliarden Euro gestiegen. Das ist ein Anstieg um 5,1 % in dreizehn Jahren. Jetzt verliert aber das Geld jedes Jahr seinen Wert – mal mehr, mal weniger. Ein Haushalt, der zum Beispiel im Dezember 2001 Waren und Dienstleistungen im Wert von 2 000 Euro kaufte, musste ein Jahr später 23 Euro mehr ausgeben, um die gleichen Güter erstehen zu können. Und die Zusatzbelastung steigt von Jahr zu Jahr. Im Dezember 2003 waren es schon monatlich 44 Euro zusätzlich und im November 2011 schließlich musste der Haushalt 332 Euro mehr aufwen-den, um die Güter des Warenkorbs von Dezember 2001 kaufen zu können. Das sind satte 16,6 % Preissteigerung – dementgegen stehen aber nur 5,1% Gesamtwachstum. Das heißt 10-15% weniger Ware im Haushalt. Wir geben ja kein Geld aus, um abstrakte Zahlen zu produzieren, sondern um Waren zum (Über)leben zu kaufen – Mal einfach formuliert: geht die Entwicklung nochmal 26 Jahre so weiter, ist nur noch die Hälfte im Kühlschrank, dafür arbeiten aber alle in Deutschland 60 Stunden die Woche bis zum 80. Lebensjahr.
Die Kosten der Bundesanstalt für Arbeit beliefen sich im Jahre 2000 auf 50 Milliarden Euro. Im ersten Quartal 2013 waren es noch 8,6 Milliarden Euro. Scheint so, als würde das Arbeitslosengeld immer weniger Kosten verursachen. Allerdings stiegen die Ausgaben des Bundes für Arbeitslosigkeit von 14 Milliarden auf 32 Milliarden – ohne, dass auch nur ein Arbeitsloser einen Euro mehr davon gesehen hätte. Auch dieses Land verarmt in Riesenschritten – aber weder wegen der viel gescholtenen Arbeitslosen noch wegen der Sozialleistungen insgesamt. Man kann hier eindrucksvoll feststellen, dass dieser Laden „Kapitalismus“ erstens nicht funktioniert, zweitens niemals funktioniert hat und drittens niemals funktionieren wird. Das Konstrukt des „deutschen Vorzeigemodells“ ist restlos gescheitert. Um unsere Wut über diese Zustände und deren Ursachen einen realen Ausdruck zu verleihen gilt es das kapitalistische System immer und überall zu entlarven, die Lügen aufzudecken und publik zu machen, sowie einen kämpferischen Umgang mit den RepräsentantInnen und VertreterInnn dieses Ausbeutungssystem zu finden.
Erschienen in barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Juli/August 2014