Der Herbst des Sozialtickets
Nachdem es um die Forderung nach einem Sozialticket in der ersten Hälfte dieses Jahres eher ruhig geworden war, legte das Bündnis Sozialticket im September wieder richtig los. In zahlreichen Nürnberger Läden und Kneipen hingen plötzlich Plakate mit der Aufschrift “Busse und Bahnen müssen für alle fahren – nicht nur für die, die es sich leisten können! Sozialticket Jetzt!??? Nach einer Pressemitteilung des Bündnisses sollen es etwa 300 Plakate gewesen sein, die Mitte September im gesamten Stadtbereich zu sehen waren. Damit will das Bündnis, das sich seit März 2009 offen für ein Sozialticket im Verkehrsverbund Großraum Nürnberg (VGN) einsetzt, erneut darauf aufmerksam machen, dass die Forderung nach einem Sozialticket weiterhin gesellschaftlich präsent ist. Das Bündnis fordert ein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, das sich auch arme und von Armut bedrohte Menschen leisten können. Bei der Forderung, wie viel ein solches Ticket kosten soll, wurde sich auf den aktuell geltenden Regelsatz für Nahverkehrsdienstleistungen geeinigt, den ALG-II-EmpfängerInnen erhalten. Das sind aktuell 11,49 Euro. Das heißt aber nicht, dass das Bündnis nur für Erwerbslose ein Sozialticket fordert. Faktisch sind allein in der „Metropolregion??? Nürnberg-Fürth-Erlangen zigtausende Menschen durch die hohen Fahrpreise in ihrer Mobilität stark eingeschränkt und können sich die teuren Tarife im VGN nicht oder nur auf Kosten anderer Grundbedürfnisse leisten. Betroffen sind neben ALG-II-EmpfängerInnen auch Menschen mit sogenannten Niedriglohn-Jobs, StudentInnen, SchülerInnen, Flüchtlinge, RentnerInnen und andere Personengruppen. Deshalb wird das Sozialticket für alle armen oder von Armut bedrohten Menschen gefordert. Mittelfristig fordert das Bündnis Sozialticket aus ökologischen und sozialen Gründen den Nulltarif in Bus und Bahn, legt den Schwerpunkt der aktuellen Aktionen aber auf die Forderung nach dem Sozialticket, weil dies als kurzfristig durchsetzbar angesehen wird.
Politische Erfolge
Politisch war das Bündnis im letzten Jahr sehr erfolgreich. In einer Unterschriftenkampagne konnten über 12.000 Unterschriften in Nürnberg, Fürth und Erlangen für die oben genannten Forderungen gesammelt werden. Diese wurden dann auch den Oberbürgermeistern der drei Städte medienwirksam übergeben. Der Fürther Stadtrat beschloss die Einführung eines Sozialtickets unter dem Vorbehalt, dass Nürnberg es ebenfalls einführt. Doch der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly und seine Stadtratsmehrheit weigern sich bis jetzt, dies zu tun. Aufgrund von Anträgen der Linken Liste im Stadtrat, die ein Sozialticket für 15 Euro fordern, war das Sozialticket mehrmals dort Thema. Letztes Jahr stellte dann auch die Stadtratsfraktion der Nürnberger Grünen einen Antrag, der aber weit hinter dem Anliegen des Bündnis Sozialticket zurückbleibt. Die Grünen wollen das Ticket zum sogenannten “Nürnberg-Pass??? modifizieren. Die VAG bietet momentan ein Ticket an, das 29,90 Euro kostet und von BesitzerInnen des “Nürnberg-Passes??? genutzt werden kann. Dieses Ticket, fälschlicherweise von Stadt und SPD manchmal auch als Sozialticket bezeichnet, gilt in Nürnberg, Fürth und Stein, hat eine Ausschlusszeit an Werktagen von 6:00 bis 8:00 Uhr und ist nicht übertragbar. Im Gegensatz zur Mobicard kann auch niemand mitgenommen werden. Von den etwa 60.000 theoretisch berechtigten Personen nutzen nur etwa 6.000 dieses Ticket. Die Grünen im Stadtrat hatten im letzten Jahr beantragt, wohl auch inspiriert von den Aktionen des Bündnis Sozialticket, das Nürnberg-Pass-Ticket so zu verändern, dass das 29,90 Euro-Ticket ohne Ausschlußzeit gilt und ein billigeres zweites Ticket eingeführt wird. Dieses soll 15,00 Euro kosten und durch gleich zwei Ausschlusszeiten begrenzt sein: Von 6:00 bis 9:00 Uhr und von 12:00 bis 14:00 Uhr. Obwohl das Bündnis Sozialticket den Antrag der Grünen durchaus begrüßte, da er das Eingeständnis ist, dass das bisherige Tarifsystem arme Menschen von der Mobilität ausschließt, wurde der Vorschlag der Grünen vom Bündnis als völlig unzureichend eingeschätzt, weil die vorgeschlagenen Ausschlusszeiten sozial schwache Menschen ein weiteres Mal diskriminieren. Anfang 2010 wurde dann von der Stadt Nürnberg eine Studie beschlossen und in Auftrag gegeben, die prüfen soll, was die von den Grünen vorgeschlagene Lösung kosten würde. Diese Studie soll nun erstmal laufen und bis die Ergebnisse vorliegen, soll es etwa ein Jahr dauern. Einzig Hans Patzelt, Stadtrat der Offenen Linken, stellte den Antrag, die Studie sein zu lassen, und mit einem Probebetrieb des 15 Euro Sozialtickets ohne Ausschlusszeiten zu starten.
Sozialticket aussitzen oder einführen?
Dass die Stadt Nürnberg überhaupt eine Studie, die sich mit der Möglichkeit eines Sozialtickets befasst, in Auftrag gibt, ist ein klarer Erfolg der Sozialticketkampagne. Der durch Aktionen und vor allem Unterschriften erzeugte Druck ließ offensichtlich ein gänzliches Ignorieren der Forderung nicht mehr zu. Dennoch ist die Studie unangebracht, denn die Einführung eines Tickets, das sich arme Menschen leisten können, ist eine soziale Notwendigkeit und daher ist dessen Einführung auch keine betriebswirtschaftliche Frage, sondern eine politische. Deshalb hatte das Bündnis Sozialticket beschlossen, in diesem Jahr von September an bis zu den Haushaltsberatungen Ende November mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen den Druck auf die politisch Verantwortlichen weiter zu erhöhen. Die am Anfang des Artikels erwähnte Plakataktion war der Auftakt der Aktivitäten. Am 9. Oktober veranstalteten die organisierte autonomie (OA) und die Revolutionär organisierte Jugendaktion (ROJA), die im Bündnis Sozialticket mitarbeiten, eine Kundgebung an der Lorenzkirche. Zu dieser Aktion kam zum ersten Mal die Sozialticket-Stoff-U-Bahn zum Einsatz. Das 2 mal 4 Meter große Konstrukt aus Holz und Stoff ist im Stil der Nürnberger U3 gestaltet und trägt auf der Seite ein schickes “Sozialticket Jetzt!???-Graffiti. Am 9. Oktober “befuhr??? die Stoff-U-Bahn die Strecke Lorenzkirche – Weißer Turm und Lorenzkirche – Rathaus. Dabei wurden rund um die “U-Bahn??? Flugblätter verteilt. Viele PassantInnen trauten ihren Augen kaum, als sie die Stoff-U-Bahn durch das U-Bahn-Zwischengeschoss an der Lorenzkirche “fahren??? sahen. Die veranstaltenden Gruppen OA und ROJA zeigten sich begeistert von der großen Resonanz der Bevölkerung bei der Aktion. Über 200 Menschen unterschrieben am 9. Oktober auf den Unterschriftenlisten des Bündnis Sozialticket. Innerhalb von nur drei Stunden wurden über 1000 Flugblätter verteilt und ungezählte Gespräche geführt.
Die politisch Verantwortlichen auf dem Podium
Nur wenige Tage später, am Donnerstag, den 14. Oktober, veranstaltete das Bündnis Sozialticket eine Podiumsdiskussion unter dem Titel “Sozialticket – einführen oder aussitzen????. Auf dem Podium diskutierten Dieter Maly vom Amt für Existenzsicherung und soziale Integration, Brigitte Wellhöfer, Fraktionsvorsitzende der Nürnberger Stadtratsfraktion der Grünen, Tim Dahlmann-Resing von der VAG, Christine Limbacher, SPD-Stadträtin, Hans-Joachim Patzelt, Stadtrat der Linken Liste (jetzt Offene Linke) und Rolf Engelmann als Vertreter des Bündnis Sozialticket. Die VertreterInnen von SPD und Grünen verwiesen stets auf die geplante Studie, gerieten vor den etwa 70 VeranstaltungsbesucherInnen aber teilweise in Erklärungsnot, als es um die Details der Studie ging und was damit überhaupt herausbekommen werden soll. Ein treffender Einwurf aus dem Publikum brachte es auf den Punkt: “Die Studie ist doch nur eine Verzögerungstaktik. Deswegen führt entweder gleich das Sozialticket ein oder sagt halt, dass ihr das nicht wollt.??? Die Ausführung der SPD-Stadträtin Christine Limbacher, dass ein Sozialticket zwar nett wäre, aber es ja eigentlich Mindestlöhne bräuchte, wurde aus dem Publikum damit quittiert, dass die SPD, wie auch die Grünen, mit den Hartz-Gesetzen selbst die Grundlagen für eine Ausweitung von Niedrigstlohnjobs geschaffen hätten. Aus der Sicht des Bündnis Sozialticket war die Veranstaltung allein deshalb schon ein Erfolg, weil die Teilnahme von SPD-, Grünen- und VAG-VertreterInnen zeigt, dass die Forderung nicht einfach ignoriert werden kann. Außerdem wurde klar, dass es gegen die Einführung eines Tickets, wie vom Bündnis gefordert, kaum Sachargumente gibt.
Der Stadtrat ist umzingelt!
Weil der Rückhalt in der Bevölkerung groß ist und die Argumente der politischen Verantwortlichen im Nürnberger Rathaus gegen die Einführung eines Sozialtickets dünn sind, wurde am 6. November das Rathaus belagert. Die organisierte autonomie (OA) und die Revolutionär organisierte Jugendaktion riefen zusammen mit dem Bündnis Sozialticket und anderen UnterstützerInnen zu einer Kundgebung unter dem Motto “Jetzt! Sofort! Sozialticket her!??? zu einer symbolischen Belagerung des Rathauses auf. Es kamen etwa 150 BelagererInnen, die stellvertretend für die Tausenden UnterstützerInnen und die zehntausenden, die von der Einführung eines solchen Tickets profitieren würden, das Rathaus für drei Stunden “belagerten???. Ziel der Aktion war es, kurz vor den Haushaltsberatungen des Stadtrates deutlich zu machen, dass ein Sozialticket notwendig ist, und zwar sofort. Vom 22. bis zum 24. November wird der Stadtrat über den kommenden Stadthaushalt beraten. Auch dann soll die Forderung nach Mobilität für alle, unabhängig vom Geldbeutel, sichtbar sein. Bis dahin wollen OA und ROJA mit einer großen Aktion nochmal dazu auffordern, im Nahverkehr solidarisch zu sein. Mit der Aktion “Der Rote Punkt nimmt Dich mit??? sollen BesitzerInnen einer Mobicard oder einer anderen Fahrkarte, mit der man andere Personen mitnehmen kann, dazu aufgefordert werden, sich einen roten Punkt anzustecken und damit deutlich zu machen, dass sie bereit sind, andere Personen mitzunehmen. Im Rahmen der Aktion wurden 50.000 Flugblätter an die Nürnberger Haushalte verteilt, um den Roten Punkt bekannt zu machen.
Im weiteren Verlauf der Kampagne, die, wie man sehen kann, schon einiges erreicht hat, werden sich die AktivistInnen jedoch weiter mit der Problematik beschäftigen müssen, dass die Zustimmung zum Sozialticket in der Bevölkerung zwar groß ist, aber diese Zustimmung sich bisher nicht in den TeilnehmerInnenzahlen bei Aktionen niederschlägt. Sollte jedoch irgendwann ein großer Teil der von hohen Ticket-Preisen Betroffenen auf die Straße gehen, dürfte eine Einführung nicht mehr fern sein. Zu welchen Bedingungen die Stadt ein solches Ticket dann einführt wird wohl davon abhängen, wie groß der bis dahin aufgebaute politische Druck ist.
Reformistisch oder revolutionär?
Die Sozialticket-Aktivitäten finden vor dem Hintergrund der aktuellen Wirtschaftskrise statt, deren Lösung die Herrschenden einmal mehr auf dem Rücken der Mehrheit herbeizuführen gedenken. Diese “Lösung??? hat für viele Menschen ganz greifbare materielle Folgen. Der Lebensstandard wird für viele sinken. Im Kapitalismus sind Krisen aber normal. Für viele Menschen herrscht im Kapitalismus Dauerkrise. Obwohl das profitorientierte, auf Ausbeutung und Unterdrückung basierte Wirtschaften weder das Ziel hat, Wohlstand für alle Menschen zu schaffen, noch dazu in der Lage wäre, gibt es aber keine Mehrheit für die Abschaffung des Kapitalismus hier in der BRD. Es macht daher auch für antikapitalistische Gruppen Sinn, vor Ort Basisarbeit gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu leisten. Damit irgendwann tatsächlich eine breite, emanzipatorisch-antikapitalistische Basisbewegung mit Revolutionspotential entsteht, muss jetzt angefangen werden, eine solche Bewegung mit möglichst vielen geeigneten BündnispartnerInnen aufzubauen.
Auch wenn ein lokaler Kampf um ein Sozialticket nicht 100-prozentig bei anderen Kämpfen wirksam werdende Bündnisse schafft, so bleibt doch wahrscheinlich danach mehr übrig als vorher schon da war. Der Kampf um das Sozialticket ist, gerade in der Krise, ein notwendiger Kampf um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Wird er mit antikapitalistischen Inhalten verbunden, dann kann er zu einer wachsenden antikapitalistischen Basis beitragen. Wird der gesamtgesellschaftliche Kontext ausgeklammert und die Ursache für Armut, nämlich das kapitalistische Wirtschaften, nicht mehr benannt, dann ist die Forderung nach einem Sozialticket bestenfalls reformistisch.
Erschienen in barricada – November 2010