Bolivien – Teil 3 und Schluss

Der Niedergang der neoliberalen Parteien

Um die Umwälzung des Parteiengefüges beschreiben zu können, die mit dem Niedergang der traditionellen Parteien und der Neugestaltung Boliviens durch die sozialen Bewegungen und ihre Partei MAS endete, müssen wir zunächst einen Blick werfen auf die Parteien, die zwischen den Militärdiktaturen und in der Zeit der neoliberalen Regierungen zur Wahl standen. In der Ära der Militärdiktaturen hatte sich die Parteienlandschaft erheblich umgeformt. Das Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) war gespalten. Ihr vormaliger rechter Gegenspieler, die Falange Socialista Boliviana (FSB) war bereits in der Bedeutungslosigkeit angekommen.
Dem linken Parteienbündnis Union Democratica y Popular (UDP) gehörten die Kommunistische Partei, eine eher linke Abspaltung des traditionsreichen MNR sowie das Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR), an. Die UDP gewann zwischen 1978 und 1980 mehrfach die Wahlen, wurde aber zunächst weggeputscht oder durch Wahlbetrug an der Regierungsübernahme gehindert. In der ersten Hälfte der 80er spaltete sich die UDP mehrfach. Übrig blieb MIR als Partei, die bei Wahlen Erfolgsaussichten hatte.
Die Accion Nacionalista Democratica (ADN) war 1979 von  Hugo Banzer gegründet worden, um auch im Parlamentarismus weiter mitspielen zu können. Tatsächlich wurde der Ex-Diktator Banzer 1997 noch einmal zum Präsidenten gewählt – mit Hilfe des MIR. MIR, ADN und MNR stellten in der neoliberalen Periode in wechselnden Allianzen die Regierungen. Kleinere Parteien und die in den 90ern wachsenden „neopopulistischen“ Abspaltungen und Neugründungen konnten als Mehrheitsbeschaffer in diesen zunächst sehr stabilen Pakt integriert werden. Der gemeinsame Nenner, nämlich die Unterstützung des neoliberalen Projekts, war eben allem anderen übergeordnet.

Soziale Bewegungen und das Movimiento al Socialismo

Der Verschleiß und die augenfällige Korrumpierung der alten linken Parteien ließ die sozialen Bewegungen ab Ende der 90er enorm erstarken. Bei den Wahlen 2002 wurde klar, dass diese Bewegungen über ihre Parteien MAS (Movimiento al Socialismo ) und MIP auch parlamentarisch eine ernste Bedrohung für den Neoliberalismus darstellten. Bei diesen Wahlen erzielte das MAS mit Evo Morales an der Spitze ein überraschend gutes Ergebnis. Sie erhielt beinahe 20% der Stimmen und war somit knapp hinter dem MNR platziert, das die Wahl ein letztes mal gewinnen konnte. Im Wahlkampf hatten die MAS-AktivistInnen auf den üblichen Politklamauk mit Cappies und Luftballons verzichtet und erfolgreich auf die Mobilisierung der Basisorganisationen gesetzt. Es gelang der Organisation, sich als ernsthafte Alternative zu den Parteien des neoliberalen Konsens darzustellen. Zusätzliche Hilfe war dem MAS ausgerechnet von seiten des US-Botschafters Manuel Rocha zuteil geworden. Dieser hatte sich nämlich  dreist in den Wahlkampf eingemischt und den BolivianerInnen für den Fall, dass Morales gewinnen sollte, erhebliche Nachteile angedroht. Morales verglich Rocha daraufhin mit einem Zirkusdirektor, und die Kandidaten der neoliberalen Parteien mit dessen Clowns.
Woher kam nun dieses Movimiento al Socialismo? In den 90ern war der Versuch unternommen worden, die Protest- und Widerstandsgruppierungen sowie vor allem die Indigena-Organisationen und die starken Verbände der Koka-Bauern in einer Allianz zu bündeln. Eine Mehrheitsfraktion unter Evo Morales scherte Ende der 90er aus dem größten dieser Bündnisse aus und gründete das Instrumento Politico por la Soberania de los Pueblos (IPSP). 1999 entschied diese Organisation ohne Parteistatus, die eigene Teilnahme an Wahlen dadurch zu ermöglichen, dass sie den Namen und Status einer bereits existierenden Kleinpartei annahm. Daher verhandelte sie mit dem damals sich fast schon in Auflösung befindlichen MAS, was schließlich in der offiziellen Übernahme der Partei mündete. Die neue Partei behielt einen Mischcharakter bei. Sie ist einerseits Sammelbecken der sozialen Bewegungen, der cocalero-Gewerkschaften und Indigena-Organisationen, andererseits eine politische Partei. Die Jahre nach dem Wahlerfolg 2002 waren gekennzeichnet durch eine weitere Mobilisierung der Protestbewegung, die schließlich 2003 zur Vetreibung des Präsidenten Sanchez de Lozada führte. 2005 gelang es mit massiven Protesten auch den letzten neoliberalen Präsidenten Boliviens, Carlos Mesa, zum Rücktritt zu zwingen.
Bei den Neuwahlen 2005 erzielte das MAS mit dem Spitzenkandidaten Evo Morales trotz aller Drohungen der USA und der Erdgaskonzerne fast 54%. Zahlreiche Verstaatlichungsprojekte wurden seither in Angriff genommen und das Land befreit sich vom Neoliberalismus und aus dem Würgegriff der USA. Natürlich geht so etwas nicht konfliktfrei.
Der bolivianische Halbmond
Die vier Tiefland-Provinzen Pando, Santa Cruz, Beni und Tarija werden aufgrund ihrer Form auf der Landkarte auch als Media Luna bezeichnet. Ihre Umrisse im Osten des Landes nehmen sich zusammengefasst aus wie die Sichel des zunehmenden Mondes. In den Zeiten, in denen Boliviens Reichtum zu einem großen Teil dem damals florierenden Zinn- und Silberbergbau geschuldet war, galten diese Tieflandprovinzen  als arme, entlegene und politisch unbedeutende Ecken des Subkontinents. Die bevölkerungsreichen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren Boliviens befanden sich eindeutig im Hochland. Gleichwohl hatten sich im Media Luna eine Reihe europäischstämmiger Großgrundbesitzer etabliert, die nach dem zweiten Weltkrieg Zuwachs bekamen durch Unternehmer aus Deutschland, Italien und Kroatien, denen die Abgeschiedenheit der bolivianischen Provinz sehr gelegen kam.
In den letzten Jahrzehnten stieg der Wohlstand in den östlichen Gebieten Boliviens enorm an, während das Hochland zusehends weiter verarmte. Diese Verlagerung ist, neben dem bereits erwähnten Niedergang des Bergbaus, der Modernisierung der Landwirtschaft im Tiefland, vor allem aber der Erschließung von bedeutenden Öl- und Gasvorkommen  im Media Luna geschuldet. Mit der wirtschaftlichen Stärke des Tieflands stieg nun auch das Interesse der Herrschenden und ihrer Anhänger, den neuen Wohlstand nicht mit dem Hochland zu teilen. So entstand eine von den Eliten geführte und aus den USA unterstützte Autonomiebewegung, deren Ziel eine weitreichende wirtschaftliche und administrative Unabhängigkeit von der Zentralregierung und die Beibehaltung des neoliberalen Wirtschaftsmodells ist. Diese Bewegung ist sehr mobilisierungsfähig und wird nicht nur von einheimischen und internationalen bürgerlichen Medien und den Regierungen der imperialistischen Zentren unterstützt, sondern verfügt über Paramilitärs, bewaffnete Banden und militante faschistoide Massenorganisationen – und sie stellt in mehreren Provinzen die Regierung.
Die Gouverneure der Tieflandprovinzen erklärten im Dezember 2007 tatsächlich ihre Unabhängigkeit vom Zentralstaat. Vorwand herfür war, dass der Entwurf für eine neue Verfassung Boliviens ihrer Auffassung nach nicht rechtmäßig zustande gekommen sei (sie hatten tatsächlich ihre Positionen nicht durchsetzen können).
Die Regierung von Santa Cruz rief für den 4.Mai 2008 zu einem illegalen einseitigen Referendum über die erklärte Autonomie auf. Die Zentralregierung plante für den selben Tag die Abstimmung über die neue Verfassung. Das bolivianische Wahlgericht untersagte beide Abstimmungen. Trotzdem führten die Eliten in den vier östlichen Provinzen ihre illegalen Wahlen ab, die von den AnhängerInnen der Regierung Boliviens weitgehend boykottiert wurden. In allen vier Provinzen lag die Zustimmung zu den Autonomiestatuten bei um die 80%, bei Wahlbeteiligungen zwischen 53% und 66%. GegnerInnen der Autonomie waren massiv und oft gewaltsam in ihren Äußerungen und Manifestationen behindert worden, denn Autonomiebestrebungen sind freilich auch in den reichen Provinzen nicht unangefochten. Infolge der Binnenmigration, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Media Luna einherging, stammen viele Bewohner des Tieflandes aus dem indianisch geprägten Hochland. Natürlich gibt es aber auch alteingesessene Tiefländer in den Städten und vor allem in den armen Teilen der Landbevölkerung, die sich dem Versuch der Eliten, den Neoliberalismus zu retten, widersetzen.
Die KapitalistInnen und ihre Angestellten reagieren mit dem üblichen Instrumentarium von Desinformation und Gewalt. Im Herbst 2008 setzten sie im Media Luna ein weiteres mal auf Eskalation. In Santa Cruz startete die rechte Jugendorganisation Union Juvenil Crucenista Hetzjagden auf GegnerInnen des Neoliberalismus und griff Einrichtungen der sozialen Bewegungen und der Zentralregierung an. Mehrere Menschen kamen bei den Angriffen ums Leben. Kurz nach Beginn der Gewalteskalation verwies die bolivianische Regierung den Botschafter der USA, Philip Goldberg, des Landes. Goldberg hatte die Opposition und ihre kriminellen Aktivitäten massiv unterstützt. Unmittelbar nach der Ausweisung des Botschafters stellte die US-regierung fest, dass Bolivien sich nicht ausreichend an der Bekämpfung des Drogenhandels engagiere (auch wenn die Vereinten Nationen der Regierung in La Paz das Gegenteil attestierten).
Wenige Tage nachdem die Angriffe in Santa Cruz begonnen hatten, überfiel eine „Bürgerwehr“ mit Angestellten der lokalen Departamento-Präfektur und Paramilitärs in der Provinz Pando unter  Führung des Präfekten eine Demonstration von Bauern und beschoß sie mit Kriegswaffen. Mindestens 18 DemonstrantInnen wurden ermordet, ca. 70 weitere werden immer noch vermisst. Die bürgerlichen Medien stellten das Massaker als Notwehr dar, ein Teil der internationalen Presse sprach von Ausschreitungen zwischen Regierungsgegnern und Anhängern der Regierung. Über Pando wurde der Ausnahmezustand verhängt und der Präfekt, ein reicher Unternehmer, wurde verhaftet. Der Staatenbund UNASUR beschloss, die Hintergründe des Massakers durch eine Kommission untersuchen zu lassen. Der verhaftete Präfekt von Pando sah sich nach Abschluss der Untersuchung in die Enge getrieben und gab schließlich als seine Komplizen die Regierenden der drei anderen Provinzen des Halbmondes an. Gemeinsam mit ihnen hätte er die Angriffe vorbereitet und koordiniert.

Morales und die Verfassung

Und wer ist eigentlich Evo Morales? Wenn man den bürgerlichen Medien glaubt, ist er ein selbstverliebter Autokrat und fast so schlimm wie sein venezolanischer Amtskollege Hugo Chavez, der als „Politclown“ verschrien ist, weil er sich nicht immer an die diplomatischen Formen und die Regeln der KapitalistInnen hält. Zudem trägt Morales eine Chompa mit einer darübergeworfenen Decke auch bei Staatsbesuchen oder vor den Vereinten Nationen, was ihm seltsamerweise als Populismus ausgelegt wird. Es ist jedoch schicht die Kleidung, die er schon immer trug. IndianerInnen wird seitens der westlichen Medien nur dann kein Rassismus entgegengebracht, wenn sie standesgemäß romantisch leiden. Ein Indianer an der Macht bringt automatisch den Dreck zum Vorschein, der in den Hirnen der Herrschenden und ihrer PropagandistInnen liegt. Das Ausmaß des Hasses der Eliten und ihrer Lohnschreiberlinge zeigt, dass der Mann nicht ganz verkehrt sein kann. Daher kurz etwas Biographisches:
Juan Evo Morales Ayma wurde 1959 als Sohn einer äußerst armen Aymara-Familie geboren. Mehrere seiner Geschwister überlebten die Armut nicht. Morales arbeitete von Kindheit an, als junger Erwachsener im Koka-Anbau und bald auch politisch im Sindicato seiner Gemeinde, dem Instrument der kommunalen Selbstverwaltung und Interessensvertretung. Später stieg Morales zum Dirigente des Sindicatos auf und wurde 1993 als bedeutendster Vertreter der  Cocaleros für die Izquierda Unida in das Parlament gewählt.
Regelrecht enttäuscht sind die journalistischen KritikerInnen des bolivianischen Präsidenten von der Häufigkeit und zunehmenden Deutlichkeit, mit der Morales und seine Projekte von den WählerInnen bestätigt werden.
2007 hatte Morales eine Volksabstimmung vorgeschlagen, in der über den Verbleib des Präsidenten und Vizepräsidenten der Republik und aller Provinzpräfekten in ihren Ämtern entschieden werden sollte. 2008 stimmte der Senat diesem Vorschlag endlich zu. Alle Amtsträger wurden bei dieser Abstimmung bestätigt. Eine direkt gewählte verfassungsgebende Versammlung erarbeitete 2006 und 2007 den Entwurf einer neuen bolivianischen Verfassung. In der Versammlung hatte das Lager des MAS eine absolute Mehrheit, jedoch nicht die zur Verabschiedung des Entwurfs nötige 2/3-Mehrheit.  Als der Text Ende 2007 von der Versammlung verabschiedet wurde, war die rechte Partei PODEMOS der Abstimmung ferngeblieben. So fand sich eine Mehrheit für den Entwurf, der unter anderem die Förderung eines genossenschaftlichen Kapitalismus, die Überführung der Bodenschätze in Gemeineigentum und die Stärkung der Rechte der indigenen Bevölkerung und ihrer kommunalen Einrichtungen vorsah. Nachdem es der Opposition zunächst gelungen war, den Volksentscheid über den Verfassungsentwurf zu verhindern, nahm schließlich eine deutliche Mehrheit der WählerInnen im Januar 2009 die Verfassung an. Am 6. Dezember 2009 wurde Präsident Morales wiedergewählt – mit 64% der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 94%.

Erschienen in barricada – April 2010