Bolivien – Teil 1
Manche Länder Lateinamerikas scheinen für die Linke in Mitteleuropa uninteressanter zu sein als andere. Selbst dann, wenn sie Schauplatz wichtiger Entwicklungen sind. Manch andere Länder sind für ein oder zwei Jahrzehnte im Fokus der Metropolenlinken, weil dort eine bedeutende linke Strömung oder eine starke Guerillabewegung existiert und im besten Fall ein wirklich praktizierter proletarischer Internationalismus zustande kommt. Im schlechtesten Fall sind besagte Länder Teilen der Linken in Europa bloße Projektionsflächen für Revolutionsromantik. Die sozialen Bewegungen einiger Länder geraten schon lange zu wenig in unser Blickfeld. Paraguay oder selbst Brasilien sind gute Beispiele hierfür. Leider trifft diese Kritik auch die barricada, wie die Redaktion Ende November in ihrem Erdloch unter Nürnberg erschüttert feststellen musste.
Was ist eigentlich in Bolivien los, und haben wir dazu schon mal was gebracht? Haben wir. Aber lang ist´s her. Daher nun ein gleich zweiteiliger Beitrag. Der aktuellen Lage in Bolivien und einer Betrachtung der politischen Entwicklung werden wir uns im zweiten Teil widmen. Im vorliegenden ersten Teil versuchen wir, die Geschichte des Landes zu beleuchten und einige der unvermeidlichen landeskundlichen Grundkenntnisse zu vermitteln. Wir beginnen aber nicht bei der Besiedlung des Kontinents, sondern bei:
Unabhängigkeitskrieg und Gründung des Nationalstaats 1809 bis 1825
Der Namensgeber des bolivianischen Nationalstaats war Simón Bolívar. Bolívar stammte aus der reichen Oberschicht von Caracas und war in der wechselhaften Geschichte der bürgerlichen Unabhängigkeitsbewegung im nördlichen Teil des Subkontinents zum politischen und militärischen Führer avanciert. Die Bewegung befreite im eineinhalb Jahrzehnte währenden Unabhängigkeitskrieg zunächst Großkolumbien (Venezuela und das damalige Neu-Granada, also Kolumbien und Panama, später mit Ecuador) von der spanischen Kolonialherrschaft. Im späteren Bolivien war es bereits 1809 zu Aufständen der kreolischen Oberschicht gegen die spanische Herrschaft gekommen. Unterstützt wurde die dortige Unabhängigkeitsbewegung aus dem Süden von José de San Martín, der den Krieg gegen Spanien im heutigen Chile und Argentinien erfolgreich führte. Die spanischen Armeen konnten jedoch in Bolivien und Peru erst durch eine militärische Intervention Großkolumbiens unter Bolivars Freund Antonio José Sucre 1824 geschlagen bzw. ein Jahr später zur Kapitulation gezwungen werden. Sucre wurde zum Präsidenten der Republik Bolivien ernannt, Bolivar, zu jener Zeit Chef der Befreiungsjunta Großkolumbiens, schrieb die Verfassung des Landes.
Der antikoloniale Kampf in Südamerika wurde von der weißen Oberschicht getragen. Diese beutete zwar die indigene und afrikanischstämmige Bevölkerungsmehrheit aus, sah sich aber ihrerseits wirtschaftlich und politisch gegenüber den Spaniern benachteiligt. Soweit Indigenas als Handelnde am Krieg beteiligt waren, waren sie häufig auf der Seite Spaniens zu finden. Ein großer Teil der indianischen Bevölkerung (in Bolivien damals etwa 75% der EinwohnerInnen) war zwar direkt oder indirekt von den Kriegshandlungen betroffen, doch die Politik fand weiterhin ohne sie statt. Widersprüchliche Interessen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung und Machtbestrebungen der jeweils in den Ländern Großkolumbiens herrschenden Bourgeoisie führten schnell dazu, dass der Traum Bolivars und seiner Anhänger platzte. Diese sahen ein vereintes Kolumbien als Beginn einer panamerikanischen Republik. Die Zersplitterung der Bewegung bereitete schnell lokalen Aufständen den Boden. Sucre konnte sich bereits nach wenigen Jahren in Bolivien nicht mehr halten. Bolivar, der sich 1828 zum Diktator ernannt hatte, musste 1830 von allen Ämtern zurücktreten und starb kurz darauf an Tuberkulose. Großkolumbien zerbrach in die Teilstaaten Venezuela, Kolumbien und Ecuador.
Kriege, Militärdiktaturen, Niedergang des Landes
In Bolivien war nach einer Reihe von Rebellionen und der kurzen Präsidentschaft José Miguel Velascos Sucres ehemaliger Mitstreiter Santa Cruz Präsident. Dieser schaffte die bolivarische Verfassung wieder ab und vereinigte mit militärischen Mitteln Bolivien und Peru. Diese Konföderation hielt allerdings nur von 1836 bis 1839. Durch die Expansionsbestrebungen der Regierung Santa Cruz sahen sich Chile und Argentinien in ihren territorialen Ansprüchen bedroht. Nachdem Chile einen Krieg mit der Confederación Perú-Boliviana gewonnen hatte, brach Peru aus dem Verbund aus und Santa Cruz verlor die Herrschaft über Bolivien. In den folgenden Jahrzehnten wechselten sich korrupte Militärdiktaturen, die später für Lateinamerika typisch werden sollten, in rascher Folge ab.
Bolivien besaß damals einen Zugang zum pazifischen Ozean. Dies änderte sich allerdings mit dem Salpeterkrieg zwischen Chile auf der einen, Peru und Bolivien auf der anderen Seite. Die schon lange diplomatisch umstrittenen bolivianischen Pazifikregionen im heutigen Nordchile waren wirtschaftlich noch interessanter geworden, nachdem dort in den 60er Jahren des 19.Jahrhunderts reiche Salpetervorkommen festgestellt worden waren. Salpeter war nicht nur Bestandteil von Sprengstoffen, sondern erwies sich vor allem als ein besserer Dünger als das von Peru reichlich gewonnene Guano. Die Enteignung der in der Region ansässigen chilenischen Salpeterindustrie durch das bolivianische Regime führte 1879 zu einem fünf Jahre währenden Krieg, der damit endete, dass Bolivien nun ein Binnenstaat war. In zwei Abkommen von 1884 und 1904 verpflichtete sich Chile jedoch, eine Eisenbahnlinie vom bolivianischen La Paz zur Pazifikküste einzurichten und garantierte Bolivien den Zugang zu den wichtigsten Hafenstädten.
Auch in den folgenden Jahrzehnten wechselten sich oligarchische Regime und Militärdiktaturen ab. Als Rohstofflieferant für Europa und die USA blieb Bolivien, wie der Rest der Region, zudem auch Spielball imperialistischer Interessen. Die territorialen Verluste stiegen ebenfalls weiter. 1903 verlor Bolivien eine Provinz an Brasilien, und in einem Grenzkrieg mit Paraguay in den 30er Jahren weitere Teile des Staatsgebiets im Gran Chaco. Bolivien war zur Mitte des 20. Jahrhunderts nur noch etwa halb so groß wie zur Zeit seiner Gründung. Einstmals eine der reichsten Regionen Lateinamerikas, gehörte das Land nun zu den ärmsten des Kontinents. Die Politik des Landes wurde in La Paz und der offiziellen Hauptstadt Sucre weiterhin fast auschließlich von den Nachfahren der europäischen Kolonialherren gemacht. Die indianische Bevölkerungsmehrheit blieb vom politischen Leben der Nation ausgeschlossen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitete sich die Hazienda-Wirtschaft dramatisch aus und drängte die indianische Subsistenzwirtschaft immer mehr zurück.
Bevor wir uns im nächsten Teil diesem politischen Leben und der Parteienlandschaft Boliviens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmen, gibt es jetzt zum Abschluss des ersten Teils eine:
Kleine Landeskunde
Bolivien wird im Westen von zwei hohen Andenketten durchzogen. Zwischen ihnen liegt der über 3000 Meter hohe Altiplano, das zentrale Hochland. Jenseits der östlichen Andenhänge befinden sich die sehr dünn besiedelten und rohstoffreichen Llanos. Diese teilen sich in subtropische Savannen an der Grenze zu Paraguay und tropische Wälder an der brasilianischen Grenze.
Circa 70% der 10,5 Millionen EinwohnerInnen des Landes sind Indigenas. Ebenfalls fast 70% der BolivianerInnen leben unter der offiziellen Armutsgrenze, teilweise in extremer Armut. Die wichtigsten Volksgruppen des Landes sind die Quechua und die Aymara mit insgesamt 5,7 Millionen Menschen. Neben spanisch werden zur Zeit in Bolivien noch etwa 36 indianische Sprachen gesprochen. Die Hälfte der Bevölkerung ist nur des Spanischen mächtig.
Ein Großteil der bolivianischen Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig, im klimatisch ungünstigen Altiplano immer noch teilweise in subsistenzwirtschaftlicher Form. Die Produktion von Koka ist weiterhin eine der wichtigsten Säulen der bolivianischen Wirtschaft. Während früher vor allem Silber und Zinn abgebaut wurden, ist heute Erdgas der bedeutendste und profitabelste Bodenschatz. Zudem befindet sich im Salzsee Salar de Uyuni etwa die Hälfte des derzeit bekannten weltweiten Lithiumvorkommens – noch unausgebeutet.
In der nächsten Ausgabe wirds spannend. Dann geht es weiter mit Silberoligarchen und Zinnbaronen, dem Movimiento Nacionalista Revolucionario und der Falange Socialista Boliviana, mit einer Revolution und dem Übergang von einer Militärdiktatur zum Neoliberalismus. Wir lernen den MAS (Movimiento al Socialismo) kennen, einen ehemaligen Koka-Bauern als Präsidenten, eine neue Verfassung, wir erleben Bolivien als gewichtigen Akteur im internationalen Konflikt um die Zukunft der Welt.
Erschienen in barricada – Februar 2010