Aufstand der Unanständigen

Tagelang brannte London – erst Tottenham, dann Bristol, Birmingham, Liverpool, Leeds und Manchester. Nachdem die Riots am Samstag, den 6. August begonnen hatten, verbreiteten sie sich wie ein Strohfeuer. Anlass war der Tod eines jungen Familienvaters, der von der Polizei erschossen und als Krimineller dargestellt wurde, um den Mord zu rechtfertigen. Eine Demonstration vor der Polizeiwache an eben diesem Samstag mündete in die Riots, die wir tagelang in den Medien sahen.

Doch was sind die Gründe?

Riots entstehen selbstverständlich nicht in einem Vakuum und so war es auch eine Kette von Umständen, die zu den Aufständen geführt hat. Zum einen sind der Tod des jungen Mannes und die anschließende Vertuschungstaktik der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Seit 1998 starben genau 333 Menschen im Zuge von Gewahrsamnahmen und dazu kamen noch die „üblichen“ Toten im Einsatz. Dass von diesen Fällen lediglich einer zur Verurteilung eines Polizisten geführt hatte, ist politische Realität und dürfte die Wut und die Ohnmacht der Menschen gegenüber dem Repressionsorgan weiterhin geschürt haben.
Zum anderen hat das Land die härteste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg hinter sich und weil gleichzeitig die Inflation auf vier Prozent in die Höhe schoss, fielen die Reallöhne auf das Niveau von 2005 zurück. Mehr als sechs Jahre stagnierende Reallöhne hatte es auf der Insel zuletzt in den 1920er-Jahren gegeben. Finanzminister George Osborne hält eisern an seiner strengen Ausgabenkontrolle fest. 80 Milliarden Pfund will der Konservative bis zum Ende der Legislaturperiode einsparen, um die Staatsschulden in den Griff zu bekommen. Fast eine halbe Million Stellen im öffentlichen Dienst fallen weg. Das Sparpaket erinnert an das deutsche Modell und wird auch ähnlich finanziert: Man kürzt und spart bei denen, die sowieso fast nichts haben.
Die Sozialhilfe wurde ebenso gekürzt wie das Kindergeld, und die Erhöhung der Mehrwertsteuer lässt den BritInnen deutlich weniger im Geldbeutel. Die Forscher des Centre for Economics and Business Research haben ausgerechnet, dass der Lebensstandard in Großbritannien in den vergangenen fünf Jahren 4,8 Prozent gefallen ist, und sie fürchten, dass sich dieser Trend fortsetzen wird.
Die Krisenpolitik kapitalistischer Staaten funktioniert zur Zeit immer auf dieselbe Art und Weise: Gewinne werden privatisiert und Verluste vergesellschaftet. Hohe Verluste bedeuten also massive Einschnitte bei der Mehrheit der Menschen, aber nicht bei den KapitalistInnen selbst. Auch die Menschen in Tottenham haben feststellen müssen, dass eine weitere schwerwiegende politische Entscheidung gegen sie getroffen wurde. Tottenham gehört zu den „abgehängten“ Stadtteilen, die sich selbst überlassen werden. Dass der Staat sich zunehmend von dem Versuch sozialer Integration verabschiedete, ist durch die neoliberale Ausrichtung der Politik in England in den letzten Jahrzehnten bedingt. Die kapitalistische Krise und der liberale Widerstand gegen die Besteuerung der privaten Profite und des bürgerlichen Reichtums taten ein Übriges. Die staatlichen Mittel werden immer weniger in die soziale Befriedung gesteckt. Die Regierung antwortet vor allem auf der Ebene der Repression.

Massenkriminalität oder politischer Aufstand?

Nach all diesen Fakten sollte es niemanden verwundern, wenn Menschen, die ein Leben in Armut und Repression leben müssen, schließlich den Aufstand wagen. Dass diese Aufstände keinen geschlossenen Ausdruck haben und somit nicht die Interessen aller britischen Lohnabhängigen abbilden, ist auch den gezielten Spaltungsbemühungen zu verdanken. Die Riots in den 1980ern waren zum Beispiel zielgerichteter, trafen eher die Polizei, Polizeistationen und größere Läden. Doch Generationen von Regierungen haben sich alle Mühe gegeben, jedes Gefühl von Klassensolidarität und -Identität systematisch zu zerstören. Da ist es nicht weiter überraschend, dass die Jugendlichen sich nicht in einem Bündnis mit den anderen ArbeiterInnen, SchülerInnen und Erwerbslosen sehen. Sie sind auf sich gestellt und sollen das auch sein. Wie und in welcher Form sich Riots ausdrücken ist also auch nicht zufällig, soll aber in keinem Fall das Anzünden von Wohnhäusern rechtfertigen, in denen die Menschen leben, mit denen wir immerhin eine Revolution machen wollen.
Um die Überschrift zu beantworten, kann man fragen, warum es eigentlich ein entweder oder sein muss? Kann der Diebstahl eines Fernsehers, der die nächste Monatsmiete sichern soll, nicht sowohl ein „krimineller Akt“ als auch ein Anzeichen sozialen Aufstands sein? Sicherlich ist diese „Lösung“, obgleich sie zusammen mit anderen gewählt wird, keine wirklich kollektive. Die Linke muss aber auch ihre Rolle in solchen Kämpfen analysieren. In Griechenland zum Beispiel waren die Aufstände von Beginn an stark von Linken geprägt, was ihnen einen klaren politischen Ausdruck verliehen hat. In England gibt es keine stark verankerte revolutionäre Linke und somit auch niemanden, der einen politischen Faktor in den Riots stellen könnte. Oder wie es das Positionspapier der FAU Münsterland ausdrückt:
„In London – und mittlerweile auch in zahlreichen anderen Städten – sind es die proles  die rebellieren. Und das hat dann keine Solidarität mehr zur Folge, sondern Angst. Das zeigt, wie degeneriert, verbürgerlicht und wenig klassenbewusst die Linke hierzulande ist. Sie hat keine soziale Basis. Und diese fehlende Basis wird in der unausweichlichen weiteren Krisenentwicklung wahrscheinlich ganz ähnlich reagieren wie in England. Um, wie die Solidarity Federation es sich wünscht, den politisch motivierten, aber nicht als politisch erkannten Protest in etwas kollektives und basisdemokratisches zu verwandeln, muss sich erst die Linke verwandeln.“

Erschienen in barricada Sommer [II] 2011