60 Jahre Grundgesetz

Deutschland „feiert“ 60 Jahre Grundgesetz. Es heißt, dieses habe „Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie“ begründet. Dabei wird verschwiegen, dass das bundesdeutsche Grundgesetz nur in wenigen Punkten von der Verfassung der DDR abweicht und dies nur in negativem Sinne: Neben den vom Grundgesetz garantierten Rechten beinhaltete das letztere auch ein Recht auf Arbeit (Art 15 DDR), und die Lohn- und Arbeitsbedingungen sollten unter maßgeblicher Mitbestimmung der ArbeiterInnen und Angestellten erfolgen (Art. 18 DDR). Das Ziel dieses Vergleiches ist nicht zu zeigen, dass die DDR in jeder Hinsicht besser bzw. demokratischer war als die BRD, sondern vielmehr, dass die verfassungsrechtlich garantierten Rechte alleine nicht viel bedeuten. Weder können die unter dem Schutz des Grundgesetzes stehenden Rechte in der BRD wirklich wahrgenommen werden, noch konnten sie in der DDR.
Das Grundgesetz beginnt in seiner Präambel mit einer faustdicken Lüge, indem es behauptet, dass das deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben habe. Das Grundgesetz war weder in seiner ursprünglichen Form noch in seinen bisher 52 Änderungen ein Werk der bundesdeutschen Bevölkerung. Das heißt, dass sogar das Grundgesetz selber, welches angeblich der Grundstein der Demokratie sei, nicht demokratisch gemacht wurde.
Das alles hindert aber die selbsternannten Demokraten nicht daran, die „demokratische Grundordnung“ abzufeiern und alle Gegner jener Grundordnung als „Feinde der Demokratie“ abzustempeln. Dabei ist Demokratie ein „magisches Wort“, das alles und nichts bedeuten kann. Aus diesem Grund möchten wir die gegenwärtige Bedeutung der Demokratie und das Verhältnis zwischen ihr und den „Feinden der Demokratie“ untersuchen.

Eine kurze Geschichte der Demokratie
Sowohl das Wort „Demokratie“ als auch die Trennung zwischen der Privatsphäre und der Öffentlichkeit – jene Trennung, die auch dem gegenwärtigen Demokratieverständnis zugrunde liegt, sind hellenischen Ursprungs. In dem Stadtstaat der griechischen Antike diskutierten alle Bürger gemeinsam über öffentliche Themen und die Bürgerversammlung hatte die Entscheidungsgewalt, wobei nur eine sehr kleine Minderheit, welche alle Sklaven, Frauen, Ausländer, Kinder usw. ausschloss, als Bürger galt. Der Status des Bürgers war von dem des Hausherrn nicht zu trennen: Beweglicher Reichtum und Verfügung über Arbeitskraft waren ebensowenig Ersatz für die Gewalt über Hauswirtschaft und Familie, wie umgekehrt Armut und fehlende Sklaven an sich schon ein Hindernis für die Zulassung zur Volksversammlung gewesen wären. Die hellenische Demokratie beeinflusst heute noch die Vorstellung der Demokratie als ein Ideal.
Im Gegensatz zum weit verbreiteten Glauben existierten auch im Mittelalter demokratische Strukturen in Europa: Repräsentative Institutionen wie das britische Unterhaus sowie direktdemokratische Stadtstaaten (vor allem in Italien, Belgien und Niederlanden) leisteten der  Herrschaft der Adligen Widerstand. Dies war jedoch ein Kampf, den sie lange Zeit nicht gewinnen konnten.
Erst als die KapitalistInnenklasse mit der Entstehung der Industrie im ökonomischen Bereich die Macht erobern konnte, setzten sich die Nationalstaaten mit ihren repräsentativ-demokratischen Institutionen gegen die alten Monarchien durch: Die Bourgeoisie erlangte eine – zunächst rein ökonomische – Autonomie gegenüber dem absolutistischen Herrschaftsanspruch des Monarchen, da der Markt sich dessen Kontrolle entzog. Der ökonomischen folgte die politische Autonomie der Bourgeoisie gegenüber dem Staat, welche sich u.a. in der Erklärung der Menschenrechte und in der Transformation des Staates überhaupt ausdrückte.
Die Bourgeoisie betrachtete sich einhergehend mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg mehr und mehr als Gegenüber des Staates. Der öffentlichen Gewalt des Staates stellte die bürgerliche Gesellschaft die eigene öffentliche Meinung entgegen, die den Anspruch erhob, Legitimationsgrundlage staatlichen Handelns zu sein. Die bürgerliche öffentliche Meinung wurde durch Diskussionen in den Kaffeehäusern, Literaturclubs usw. ausschließlich von bürgerlichen Männern gebildet. Arbeiter, Bauern, Sklaven und Frauen (die bürgerlichen nicht ausgenommen) waren nicht Teil jenes diskutierenden Publikums. Die Kaffeehäuser und bürgerlichen Vereinigungen stellten eine Arena, einen Übungsplatz und letztlich die Machtbasis einer Schicht bürgerlicher Männer dar, die sich allmählich selbst als eine „universelle Klasse“ sahen und sich anschickten, ihre Eignung, alleine die Regierung zu stellen, geltend zu machen.
Dem Ausschluss der Arbeiter, Bauern, Frauen und Sklaven aus der öffentlichen Diskussion entsprach dann auch die Einführung des Wahlrechts, da anfangs nur adlige und bürgerliche Männer dieses Recht genossen. Durch diese Ausschlusskriterien grenzte sich die aufkommende Elite von den verschiedenen Volksschichten ab.
Erst durch jahrelange Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, der Frauenbewegung und der Schwarzen z.B. in den USA wurde in weiten Teilen der Welt das allgemeine Wahlrecht eingeführt; Bürger- und Menschenrechte haben formal Gültigkeit für alle Menschen erlangt. So kann man heute sagen, dass alle formellen Schranken für politische Gleichheit abgeschafft wurden. Gewiss ist ein Barack Obama (oder eben eine Angela Merkel) ein symbolischer Schlag ins Gesicht des Rassismus (Sexismus). Trotz alledem kann man jedoch nicht von wirklicher politischer Gleichheit sprechen, auch wenn dieser formell nichts im Wege steht.

Die Demokratie – heute
Wie oben bereits erwähnt, genießen heute alle Staatsbürger grundsätzlich gleiche politische Rechte und diese stehen unter dem Schutz des Grundgesetzes. Aber ob diese von allen gleich wahrgenommen werden können ist eine andere Frage: Wenn wir die Lebensrealität unserer Gesellschaft unter die Lupe nehmen, sehen wir, dass die politische Arena trotz verfassungsrechtlich gesicherter politischer Gleichheit auf einer Reihe bedeutsamer Ausschlüsse beruht, die vom Ausschluss aufgrund des Geschlechts bis hin zu anderen Ausschlüssen aufgrund der  Klassenzugehörigkeit, der „Rasse“ etc. reichen. Also sind alle gleich, aber manche sind „gleicher“.
Unter dem Ausschluss soll man in diesem Zusammenhang nicht die formellen Ausschlüsse verstehen, wie es in der frühbürgerlichen Zeit der Fall war. Die Ausschlussmechanismen funktionieren heute viel verborgener.
Erstens sollen die Bürger sich an der öffentlichen Diskussion so beteiligen, als ob sie sozial gleichgestellt wären. In einer Wirtschaftsweise, die systematisch ökonomische Ungleichheiten erzeugt, ist es jedoch ein fataler Fehler, davon auszugehen, dass politische Gleichheit sich – trotz sozialer Ungleichheiten – verwirklichen ließe. Ein Mensch, der für sein tägliches Brot arbeiten muss, kann nicht dasselbe politische Gewicht haben wie ein anderer, der ein Medienimperium besitzt (und damit die Meinung anderer beeinflussen kann) oder mit Angela Merkel zu Abend ißt.
Zweitens erklärt die scharfe Trennung zwischen öffentlichen und privaten Sphären (die komischerweise nicht besteht, wenn Ämter Arbeitslose schikanieren oder Konzerne ihren Arbeitern hinterher schnüffeln), welche ein zentrales Element der bürgerlichen Demokratie ist, wichtige Bereiche des Lebens zur privaten Angelegenheit, in denen die Ungleichheiten erzeugt werden.
So ist zum Beispiel die Arbeit. Auch wenn der Staat durch die Gesetzgebung den rechtlichen Rahmen der Arbeitsverhältnisse bestimmt, wird das Arbeitsverhältnis zwischen dem/der einzelnen KapitalistIn und dem/der einzelnen ArbeiterIn als Privatsache derer angesehen. Die Gesellschaft hat sich aus diesem Verhältnis rauszuhalten und die Ausbeutung kann sich ungestört fortsetzen, da der/die einzelne ArbeiterIn alleine gegenüber dem/der einzelnen KapitalistIn machtlos bleibt.
Ein weiteres Beispiel wäre die Familie als Intimsphäre. Dadurch, dass sich das Familienleben der Öffentlichkeit enzieht, wird zum Beispiel die häusliche Gewalt gegen Ehefrauen zu einer Privatsache erklärt. Das Patriarchat als ein soziales Problem wird nicht thematisiert, ein weit verbreiteter systemischer Grundzug patriarchaler Gesellschaften, nämlich die Gewalt gegen Frauen in der Familie, wird somit als eine Privatangelegenheit von einer kleinen Anzahl heterosexueller Paare gesehen.
Zum Glück gibt es die ArbeiterInnenbewegung und die Feministinnen, denn diese konnten die oben genannten Probleme zu einem gewissen Grad zu öffentlichen Angelegenheiten machen. Erst dadurch, dass die Betroffenen sich gegen die AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen gewehrt haben, verschob sich die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zugunsten der Ersteren.
Ein weiteres Problem dieser Demokratievorstellung ist, dass den Ausgebeuteten und Unterdrückten die Aufgabe bzw. Möglichkeit gegeben wird, mit den Ausbeutern und Unterdrückern über das Gemeinwohl der Gesellschaft mitzudiskutieren, ohne ihre Klassen- und Gruppeninteressen zu thematisieren. Dadurch entsteht eine alle einschließende „wir“-Identität, die in Klassengesellschaften, in denen sich die sozialen Ordnungen zum systematischen Profit einiger weniger und zum systematischen Schaden aller anderer auswirken, die Ausgebeuteten und Unterdrückten von ihren eigenen Interessen ablenken soll. Denn „unser“ aller Interesse, das sich von jener „wir“-Identität ableitet, ist meistens nichts anderes als das Interesse der Herrschenden.

Ein radikal-demokratisches Projekt als Perspektive

Wenn wir Demokratie im Sinne von Selbstbestimmung der Menschheit begreifen, müssen wir sagen, dass wir heute von diesem Ideal noch weit entfernt sind. Einerseits ist die Demokratie mit dem Bereich begrenzt, der von der herrschenden Klasse als öffentlich definiert wird, andererseits kann sie auch in diesem Bereich aufgrund sozialer Ungleichheiten, die in den anderen, „nicht-öffentlichen“ Bereichen systemisch erzeugt werden, nicht wirklich verwirklicht werden.
Die Entstehung des bürgerlich-demokratischen Staates war im Vergleich zu den absolutistischen Systemen, die ihm vorgingen, gewiss eine positive Entwicklung in Richtung Selbstbestimmung der Menschheit. Nichtsdestotrotz ist der bürgerlich-demokratische Staat ein Mittel der Klassenherrschaft, wobei die öffentliche Diskussion dazu dient, diese Herrschaft zu legitimieren. Mit dessen Entstehung verließ die rein repressive politische Herrschaft die Bühne der Geschichte und eine Klassenherrschaft, die hauptsächlich auf Zustimmung der Ausgebeuteten und Unterdrückten basiert, welche durch Repression ergänzt wird, trat an deren Stelle. Gleich blieb dabei, dass nach wie vor eine Klasse die restliche Bevölkerung beherrscht.
Der bürgerlich-demokratische Staat war – und ist – nicht in der Lage, ihr Versprechen der demokratischen Selbstbestimmung einzulösen, denn wir wollen, dass die Menschen nicht mehr miteinander so diskutieren müssen, als ob sie gleich wären, sondern dass sie tatsächlich gleich sind.
Die soziale Gleichheit beinhaltet natürlich nicht nur die Abschaffung ökonomischer Ungleichheiten, welche ohne die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmittel undenkbar wäre, sondern neben dieser auch die gänzliche Abschaffung jeglicher Herrschaft des Menschen über den Menschen, sei es in Form des Sexismus, des Rassismus, der Gerontokratie usw.
Der historische Versuch, das Privateigentum abzuschaffen und somit die Demokratie – über die ihr im bürgerlichen Rechtsstaat gesetzten Grenzen hinaus – auf weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen, scheiterte dadurch, dass die Wichtigkeit nichtökonomischer sozialer Mechanismen verkannt wurden. Daher ist es kein Wunder, dass sich die Klassenherrschaft – diesmal in einer nichtdemokratischen Form – reproduzieren konnte. Am Scheitern eines der größten politischen Projekte der Menschheitsgeschichte, nämlich des Realsozialismus, wird die Bedeutung der Demokratie für die Emanzipation der Menschheit unübersehbar.
Die Freiheit der Menschheit ist noch einen – diesmal noch größeren – Versuch wert: Der Realsozialismus mündete in ein autoritäres System, in dem der Staat durch die Abschaffung der Trennung zwischen ihm und der Gesellschaft von oben nach unten das Gesellschaftliche vereinnahmte. Die Abschaffung jener Trennung von unten nach oben würde dazu führen, dass die Gesellschaft die Zügel des Gesellschaftlichen in ihre eigenen Hände nimmt – in wörtlichem Sinne sich selbst bestimmt. Die Frage, die sich die Menschheit stellen muss, ist nicht, ob das Gesellschaftliche staatlicher oder privater Kontrolle unterliegen soll, sondern sie ist: Fremd- oder Selbstbestimmung der Gesellschaft?
Wir, diejenigen, die angeblich die „Feinde der Demokratie“ sind, wollen, dass alles von der Gesellschaft bestimmt wird, was sie betrifft. Wir wollen die Demokratie auf alle Bereiche des sozialen Lebens ausdehnen, die jetzt noch von der herrschenden Klasse alleine kontrolliert werden. Wir sagen: Es kann keine Demokratie ohne Selbstbestimmung geben, erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr!
In dieser Hinsicht können die herrschende Klasse und ihre Propagandamaschinerie uns vorwerfen, dass wir „zu viel“ Demokratie wollen, denn sie selber sind heute nicht mehr Demokraten als diejenigen, die früher gegen das allgemeine Wahlrecht gekämpft haben.

barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Juni 2009