Warum haben Neonazis in Ungarn heute Narrenfreiheit?

Es ist kein Zufall, dass Neonazis aus ganz Europa – darunter viele aus Deutschland – jährlich nach Budapest pilgern. Alle großen Gedenkmärsche der Neonazis sind in Deutschland gescheitert. Nein, nicht an der Staatsmacht, sondern am konsequenten antifaschistischen Protest und Widerstand Tausender. Mehr und mehr ziehen sich deutsche Neonazis deshalb in dieser Hinsicht in ihre Safe Spaces zurück. Und Ungarn ist so einer für europäische Nazis. Während das Zeigen von Symbolen des Nationalsozialismus in Deutschland illegal ist, können Neonazis beim „Tag der Ehre“ unbehelligt in Uniformen der Waffen SS herumlaufen. Das ist wichtiger Bestandteil des Hauptevents am „Tag der Ehre“. In SS- und anderen Nazi-Uniformen wandern tausende Neonazis den Weg, auf dem ihre ideologischen Vorfahren im Sperrfeuer der Roten Armee starben. Diese Wanderung, ihr gemeinsamer Marsch, wird dabei vom ungarischen Staat auch noch mit 18.000€ gesponsert – aus Mitteln der Tourismusförderung. Außerdem organisieren die Neonazis rund um ihren „Tag der Ehre“ Rechtsrockkonzerte und andere Veranstaltungen. Organisatoren sind hierbei u.a. das in Deutschland verbotene Blood and Honour Netzwerk, aus dem sich viele NSU Unterstützer*innen rekrutierten und die sogenannten Hammerskins, welche an Morden und Übergriffen auf Antifaschist*innen in ganz Europa beteiligt waren. Der Gewinn dieser Konzerte fließt direkt in den Aufbau europäischer Neonazistrukturen.
Für Andersdenkende, Linke, queere Menschen, Jüdinnen und Juden, Geflüchtete, Sinti und Roma ist Budapest rund um den „Tag der Ehre“ ein gefährliches Pflaster. Rund um den Nazi-Aufmarsch und seinem Begleitprogramm kommt es jedes Jahr zu zahllosen Übergriffen der Nazis. Budapester Straßen, Plätze und Gaststätten sind in in dieser Zeit gefährliche Orte.

Warum ist das so?

Während der Zugehörigkeit Ungarns zum Einflussgebiet der Sowjetunion konnte trotz der eher schwachen Wirtschaftsleistung des Landes ein gewisser Lebensstandart für weite Teile der Bevölkerung gewährleistet werden. Dies änderte sich schnell nachdem Zerfall dieser. Bereits in den frühen 90er Jahren geriet die nun privatisierte nationale Industrie in Abhängigkeit europäischer, vor allem deutscher, Kapitalinteressen, damit verschärfte sich die soziale Lage der Mehrheitsbevölkerung. Die Unzufriedenheit die sich daraus ergab wurde auch mit Unterstützung der herrschenden Politik und innerhalb der Gesellschaft wirkender faschistischer Akteur*innen zugunsten eines vermeintlichen nationalistische Gegenmodells zur EU gelenkt. Bei der Bildung dieser neuen nationalistischen Identität wurde sich einer Reihe monarchistischer, faschistischer und antisemitischer Vorbilder der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts orientiert. Somit dient der ausgeprägte Nationalismus Unzufriedenheitspotential der ungarischen Bevölkerung Weg von den dort Herrschenden auf Minderheiten nach Innen und die EU nach außen zu lenken. Eine reale Abkehr von der EU seitens der ungarischen Herrschenden ist ohne weiteres jedoch nicht zu Erwarten und bisher reine Propaganda, denn bisher profitieren sie auf Kosten der eigenen Bevölkerung selbst noch zu stark an dem europäischen Projekt und dem Handel mit der BRD.

In Ungarn regiert seit 2010 Viktor Orban und seine Fidesz Partei. Fidesz hat seitdem kontinuierlich bürgerliche Freiheitsrechte abgebaut und eine autoritäre Herrschaft etabliert. Ein paar Beispiele?
Ungarn wurde mittlerweile selbst vom EU-Parlament nicht mehr als vollwertige Demokratie betrachtet, sondern als “Wahlautokratie”, welche systematisch und aus Sicht des EU- Parlaments „vorsätzlich die vereinbarten grundlegenden Werte der EU untergräbt“, die Meinungs- und Pressefreiheit massiv einschränkt, demokratische Kontrollinstanzen ausschaltet und politische Gegner*innen kriminalisiert. 2022 wurden Milliardenzahlungen der EU an Ungarn eingefroren, da sich das Land nicht an vereinbarte rechtsstaatliche Reformen gehalten hat. Nachdem die Kommission rund um Ursula von der Leyen (CDU) jedoch Beträge freigab, um Orbans angedrohtes Veto gegen die Unterstützung der Ukraine abzuwenden, wurde diese vom EU-Parlament verklagt.

Sowohl Amnesty International als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisieren die zunehmende Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit in Ungarn. Die rechte ungarische Regierung unter Viktor Orbán hat wiederholt unliebsame Richter*innen und Staatsanwält*innen mit Disziplinarmaßnahmen und Suspendierungen eingeschüchtert. Ein Beispiel für die politische Einseitigkeit des Landes, ist die Begnadigung eines verurteilten Rechtsterroristen durch die ungarische Staatspräsidentin.

Reporter ohne Grenzen bemängeln zudem eine Medienlandschaft unter Kontrolle der Regierung. Nach dem Erlass eines neuen Mediengesetzes 2010 wurden große Teile der Fernseh- und Radiolandschaft zentralisiert. Eine wenig später geschaffene, durch die Regierung besetzte Medienbehörde macht es möglich, Medien zu kontrollieren und abzustrafen. In der Konsequenz findet kritischer und investigativer Journalismus in Ungarn so gut wie nicht mehr statt und die großen Tageszeitungen und Fernsehsender wiederholen lediglich staatliche Narrative. Dementsprechend ist die Berichterstattung aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit und der staatlichen Kontrolle extrem rechtskonservativ geprägt. Das zeigt sich auch im Fall der von Ungarn verfolgten Antifaschist*innen. Rund um den Prozess von Illaria kam es zu extremen Vorverurteilungen in der Presse, obwohl noch kein Urteil im Prozess gefällt wurde.

In der Flüchtlingspolitik ist Ungarn ähnlich autoritär geprägt. Immer wieder gibt es Berichte über illegale Pushbacks nach Serbien, Misshandlungen von Asylsuchenden und die Bedingungen in den Auffanglagern gleichen denen von Haftanstalten. Für diese Verstöße wurde Ungarn sogar vor Kurzen zu 200 Millionen Euro Strafe durch den Europäischen Gerichtshof verurteilt.
Um dieses Programm durchzusetzen, bediente sich die rechte Regierung in der Vergangenheit immer wieder noch rechteren Kräften wie der faschistischen Jobbik Partei und diverser Neonazigruppen um Mehrheiten im Parlament zu bekommen, oder um die eigene Politik mit Hilfe von Schlägertrupps durchzusetzen. Es dürfte also keine Überraschung sein, dass Ungarn ein Safe Space für Neonazis ist, die sich dort nicht nur am sogenannten Tag der Ehre sicherlich pudelwohl fühlen.
Der Mitgliedschaft, in der sich nach außen stets demokratisch gebenden EU, hat das alles keinen Abbruch getan. Ungarn ist und bleibt Mitglied der EU, ein Partner mit dem die BRD zahlreiche bilaterale Abkommen pflegt und vielfach zusammenarbeitet. Mit dem der deutsche Staat und seine Institutionen eben auch bei der Verfolgung von Antifaschist*innen offen kollaboriert.