Von Gurkennorm und Superstaat: Die EU auf dem Weg zum Bundesstaat?! – Teil 2
Der EU-Vertrag, der in den Köpfen noch am präsentesten sein dürfte, ist der Vertrag von Lissabon. Mehr oder minder geschickt wurde dieser Vertrag, an einem weiteren Volksreferendum vorbei geschleust und beschlossen. Kosmetische Veränderungen wurden gemacht, Sätze gestrichen, die dann wortwörtlich in Zusatzprotokollen wieder aufgenommen wurden. Doch auch ein positives Recht der EU-BürgerInnen wurde formuliert, um die Liberalen zu besänftigen, ist nun festgehalten, dass ein Bürgerentscheid auf EU-Ebene möglich ist. Hierzu müssen eine Millionen Unterschriften aus einem Viertel der EU-Länder vorliegen. Selbst attac oder anderen finanzstärkeren Gruppierungen dürfte dieser Aufwand schwer fallen. Aber Papier ist bekanntlich geduldig und auch hier dürfte es sich eher um eine Formalie handeln. Die Tendenz aber spricht selbst aus dieser Formalie: Die Rechtsform wird weiter an eine bundesstaatliche angeglichen. Wie in Teil 1 erwähnt, zeichnet sich der moderne Nationalstaat dadurch aus, dass er nicht nur Abwehrrechte, also negative Rechte für seine BürgerInnen bereithält, sondern eben auch positive Beteiligungsrechte. Von ArbeiterInnenrechten ist übrigens auch im Lissabon-Vertrag weit und breit keine Spur. Aber die „Sicherstellung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs“ wurde ausdrücklich festgehalten. Denn wie immer man das Blatt auch drehen und wenden mag, die EU besteht aus kapitalistisch agierenden Nationalstaaten, die zueinander in Konkurrenz stehen. Der militärische Friede ist zwar nach Innen gewahrt, doch, dass es sich bei der EU wahrhaftig nicht um ein solidarisches Bündnis handelt, zeigt die Krise mehr als deutlich. Auf seinen Blog zur EU-Entwicklung formulierte das ein Liberaler folgendermaßen: „Der Standortwettbewerb zwischen den einzelnen Nationalstaaten in Europa ist der beste Schutz vor einer interventionistischen Wirtschaftspolitik. Solange jeder Nationalstaat seine eigene Wirtschaftspolitik betreibt, sind den Begehrlichkeiten der Linken in Europa klare Grenzen gesteckt. Denn selbst wenn die Mehrheit der europäischen Staaten von sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierungen geführt wird, wird es immer eine nationale Regierung geben, die aus diesem Konsens ausschert und genau darin ihren Vorteil sieht, diese Mehrheit bei Steuern, Abgaben und Regulierungen zu unterbieten, um Kapital, qualifizierte Arbeitskräfte und Unternehmen anzuziehen.“
Nun steht die EU momentan wahrlich nicht vor einer sozialistischen Machtübernahme, aber in ihren Fantasien und Ängsten sind die FreundInnen des Kapitals vorausschauender als viele Linke.
Die Fiskalunion und ihre Konsequenzen
Zur Staatenwerdung ist eine gemeinsame Finanzpolitik unerlässlich. Und die wurde in Zeiten der Krise weiter unter die Hoheit der EU gestellt. Deutschland drängte zunächst auf die Einführung de Schuldenbremse nach eigenem Model. Hinzu kommen nun Sanktionen, wenn die Verschuldungsgrenze von Mitgliedsstaaten überschritten wird. Besonders betroffen sind die „Defizitstaaten“. Diese müssen ihren Haushaltsplan vorlegen und absegnen lassen. Allgemein schuf die Krise viele Situationen, in denen die Souveränität einzelner Staaten nahezu aufgehoben wurde. Zu nennen ist hierbei vor allem das Einsetzen technokratischer Regierungen in Italien und Griechenland. Dass es für die betroffene Masse keine große Rolle spielt, wer sie jetzt genau in den ökonomischen Ruin stürzt, ist die eine Seite, aber gleichzeitig ist die Wahl der RepräsentantInnen eines der wichtigsten Prinzipien des modernen bürgerlichen Nationalstaates. Hinsichtlich dessen, ist zu erkennen, dass die Prioritäten – zumindest in Krisenzeiten – zugunsten der EU-Stabilisierung gesetzt werden auch wenn das die Aushebelung nationalstaatlicher Parlamente bedeutet. Interessant ist aber auch die Kritik, dass diese Standards auf EU-Ebene nicht eingehalten werden. BürgerrechtlerInnen und auch die Europäische Linksfraktion bemängeln bei der Entwicklung der EU regelmäßig die undemokratischen Strukturen. Die Organe der EU stimmen sich zwar zumeist nach dem Konsensprinzip ab – allerdings nur in den Gremien, die wenig faktische Entscheidungsgewalt haben. Die Europäische Kommission hingegen wird mit immer mehr Macht und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet, die sie zur Zentralinstanz der EU erhebt. Sie kann, weil sie auf demokratische Bestätigung nicht angewiesen ist, ihre eigenen Machtziele verfolgen und diese gegenüber den sich blockierenden Entscheidungen von Rat und Parlament durchsetzen. Ihre Macht beruht auf exklusiven Verfahrensrechten. Sie hat das ausschließliche Recht zu bestimmen, was auf die Tagesordnung kommt und was nicht. Im Weiteren verfügt sie über eine einseitige Flexibilität. Sie kann Vorlagen jederzeit abändern oder zurückziehen, während dies dem Rat in der Regel nur bei Einstimmigkeit möglich ist. Zwar wurde das Subsidiaritätsprinzip eingeführt, um den Nationalstaaten das Recht einzuräumen gegen Gesetzesentwürfe vorzugehen, die ihrer Meinung nach gegen die Vorrangigkeit des Nationalstaates gegenüber der EU verstoßen. Die Bestimmungen hierfür sind aber so eng gefasst, dass sie der Kommission nicht wirklich gefährlich werden können: Die Organisationsfähigkeit der nationalen Parlamente ist gering, die Frist von sechs Wochen kurz, die Bereitschaft einer nationalen Regierung zu klagen fraglich, vor allem wenn der Antrag von der Opposition eingebracht wird, und der EuGH, dessen Bedeutung mit dem Grad der Zentralisierung wächst, dürfte kaum ein unparteiischer Richter sein. So ist die Kritik der parlamentarischen Linken und anderen SkeptikerInnen durchaus berechtigt, zeigt aber auch schon, dass an die EU nicht die Ansprüche herangetragen werden, die dem Charakter eines Staatenbündnisses entsprechend wären, sondern die Messlatte ist dieselbe, die auch für Nationalstaaten gilt.
Gewaltmonopol nach Außen
Doch bei alldem bis jetzt genannten, bleibt die zentrale Frage der Debatte aber unberührt: Die Frage des Gewaltmonopols und der Vertretung nach außen. Staaten können ihre innere Finanzverfassung sehr unterschiedlich regeln, was sie definitionsgemäß zu Staaten macht und von Nicht-Staaten unterscheidet, ist die Souveränität in völkerrechtlichen, außen- und sicherheitspolitischen Fragen – bei der Entscheidung über Krieg und Frieden. Ein Staat ohne gemeinsame Zentralbank ist denkbar – das traf auf fast alle Staaten bis ins 19. Jahrhundert zu, auf die USA bis zum Jahr 1913 – ein Staat ohne gemeinsame Verteidigungs- Außenpolitik und verbindliche völkerrechtliche Vertretung hingegen nicht. Die Schweiz und die USA sind ohne Zweifel Bundesstaaten, obwohl sie ihren Gliedern, den Staaten und Kantonen, ein hohes Maß von Finanzautonomie erlauben und so etwas wie ein Bailout nicht kennen. Während die Schweiz noch so etwas wie einen Finanzausgleich zwischen den Kantonen kennt, kennt die USA einen solchen Transfer zwischen den Einzelstaaten nicht. Dennoch würde niemand bestreiten, dass die USA heute einen Bundesstaat darstellt.
Die Gründung eines europäischen Bundesstaates würde die Übertragung der völkerrechtlichen Souveränität von der nationalen auf die europäische Ebene erfordern. Dies würde ein Referendum auch in der Bundesrepublik zwingend machen. Sowohl eine Mehrheit der deutschen WählerInnen als auch der WählerInnen in den anderen EU-Staaten müssten also dieser Souveränitätsübertragung zu stimmen.
Wenn Außen- und Sicherheitspolitik Unionssache wären, was in einem Bundesstaat zwingend der Fall ist, kann es keine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik einzelner EU-Staaten geben. Frankreich könnte zum Beispiel nicht mehr selbstständig entscheiden, Truppen in einen westafrikanischen Staat zu schicken, um dort bestimmte Interventionsziele zu erreichen, was in den letzten Jahrzehnten durchaus gängige Praxis war. Das könnte nur noch die EU. Frankreich könnte höchstens einen Antrag bei den zuständigen EU-Gremien stellen mit dem Wunsch, dass eine solche Intervention in die Wege geleitet wird. Würde dann eine solche Intervention beschlossen, dann wäre dies die gemeinsame Haltung der gesamten EU und damit wäre die Unterstützung dieser Intervention auch für alle bindend. Kein Einzelstaat könnte sich neutral verhalten, so wenig wie sich Oklahoma oder der Staat New York für neutral erklären kann, wenn US Truppen in den Irak geschickt werden. Dem entsprechend müsste es wohl auch entweder eine EU-Armee geben oder wenigstens einen EU-Kommando-Stab, der alle Armeekontingente befehligt. Doch es ist ja nicht so, als ob es hierfür noch keine Pläne gäbe. Im März 2007 sagte die deutsche Bundeskanzlerin und EU-Ratspräsidentin, Angela Merkel: „Wir müssen einer gemeinsamen europäischen Armee näher kommen. Die EU-Kommission wird handlungsfähiger werden, und zwar mit klar geregelten Zuständigkeiten.“ Bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 6. Februar 2010 betonte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, dass Europa eine gemeinsame Armee bräuchte: „Die Europäische Union muss ihrer politischen Rolle als globaler Akteur gerecht werden. Sie muss eigenständig Krisenmanagement betreiben können und sie muss rasch, flexibel und im gemeinsamen Verbund handeln können.“ Zudem sagte der belgische Regierungschef Guy Verhofstadt: „Eine europäische Armee aus 100.000 Soldaten würde die europäische Verteidigungsbereitschaft deutlich verbessern und die NATO stärken.“ Zudem würde eine EU-Armee Kosten sparen, weil die ineffiziente Aufteilung der Union in nationale Verteidigungsmärkte überwunden würde. Was es darüber hinaus schon länger gibt, ist das Eurokorps. Das ist ein militärischer Verband bestehend aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Luxemburg. Das Eurokorps steht allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und den mit der Nato assoziierten Staaten offen. ?Das Korps stellt Kräfte für EU- und Nato-Missionen, unter anderem für die schnelle Eingreiftruppe der Nato. Gegründet wurde das Eurokorps im Jahr 1987, erstmals aufgestellt Ende 1993.
Zu guter letzt: die Diplomatie
Ebenso wenig würde es in Zukunft noch eine deutsche, französische oder britische Nahostpolitik geben können, so wenig wie es heute eine eigene bayerische oder texanische Nahostpolitik gibt. Das besondere bilaterale Verhältnis Deutschlands zu Israel wäre etwa in einem europäischen Bundesstaat auf diplomatischer Ebene ebenso wegzudenken wie das besondere Verhältnis Frankreichs zur arabischen Welt. In einem Bundesstaat kann es nur eine gemeinsame außenpolitische Linie geben, auf die man sich zum Beispiel in einem Rat der AußenministerInnen oder in einem EU-Kabinett verbindlich einigt. Das Aushandeln völkerrechtlicher Verträge, die Anerkennung neuer Staaten, die Entscheidung über Militäreinsätze, der Abbruch diplomatischer Beziehungen usw. diese Kompetenzen liegen in einem Bundesstaat auf Bundesebene, also in einem europäischen Bundesstaat auf der Ebene der EU.
Was bedeutet das für uns?
Dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Und dennoch ist klar geworden, dass der Bundesstaat EU nicht undenkbar ist. Die EU ist auf dem Weg dahin und für die sozialen Bewegungen dieses Europas muss klar sein: die Vernetzung der Gegenseite läuft auf Hochtouren. Aufstandsbekämpfung und Abwehrmaßnahmen nach Innen spielen hierbei auch keine unbedeutende Rolle. So wurde im Lissabon-Vertrag die Todesstrafe noch als Option in Kriegs -und Aufstandssituationen genannt. In den meisten Ländern der EU ist sie jedoch selbst dann verboten – zumindest formal.
Die Überwindung nationalstaatlicher Grenzen ist ein Ziel der radikalen Linken und deshalb sollten wir, wenn wir von der EU sprechen, die massive Aufrüstung der Außengrenzen, nicht vergessen. Und der militärische Friede nach Innen ist verbunden mit einem Krieg nach Außen und einer Aufrüstung sämtlicher EU-Staaten, die mit dem Lissabon-Vertrag sogar von den Mitgliedsstaaten gefordert wird. Ein generelles Zurück zu souveränen Kleinstlstaaten ist allerdings nicht nur zumeist eine reaktionäre Forderung, sondern sie ist beim jetzigen Stand der grenzenlosen Kapital- und Warenflüsse relativ unwahrscheinlich. Die Hoffnung, die EU durch konstruktives Partizipieren in ein „soziales Europa“ umgestalten zu können, kann allerdings auch nicht die Lösung sein. Die EU ist nach wie vor der organisierte Versuch des europäischen Kapitals, auf Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte, die Interessen der jetzigen, in den europäischen Nationalstaaten verankerten Konzerne, zu bündeln, um diese im neuen Nationalstaat EU für die globale Konkurrenz zu rüsten. Wir müssen uns wohl darauf einstellen, in Zukunft einen mächtigen europäischen Staat (oder so was ähnliches) zum Gegner zu haben. Das bedeutet, dass wir nicht in unserer jetzigen Stellung verharren dürfen. Solidarisierungen mit sozialen Bewegungen aus anderen Ländern müssen auf die Tagesordnung, auch wenn uns nicht jedes Wort von dem, was irgendwer aus dieser Bewegung mal irgendwo gesagt hat, passt. Wir müssen uns vernetzen! Vielleicht kann der nächste Urlaub ja mal dazu dienen, sich mit AktivistInnen aus anderen Ländern zu treffen, sich kurz zu schließen und danach Kontakt zu halten. Wir müssen nicht aus irgendeiner bürgerlichen Idee heraus anfangen „Europa zu denken“, wir sollten viel eher damit anfangen, an eine europäische Revolution zu denken. Der Feind wird zwar mächtiger, aber zugleich ergeben sich auch neue Chancen für die Lohnabhängigen. Der Fakt, dass das Kapital verstreut ist, aber dennoch ineinander greift, haben sich HafenarbeiterInnen schon früh zu Nutze gemacht. Auch die Weiterverarbeitenden Industrien sind verwundbar. Und Flughäfen, die Geschäftsleute hin und her verschieben, sowieso. Das heißt, wenn wir es schaffen, von denen zu lernen, die in ihren praktischen Kämpfen durchaus radikaler und erfahrener sind, als der Großteil der bundesdeutschen Linken, hätte uns die „Europäisierung“ der Linken schon etwas gebracht.
Doch vergessen dürfen wir in allen Debatten nicht die Entwicklungen im Osten. Der unverkennbare Rechtsruck mit Tendenzen zur Faschisierung mancher Staaten lässt die radikale Linke hier erstarren. Schockiert lesen und hören wir von rassistischen Morden an Sinti und Roma. Während manche Linke trotz NSU und Hetze gegen Flüchtlinge ernsthaft behaupten, dass Rostock-Lichtenhagen, Solingen oder Mölln heute so nicht möglich wären, sterben ein paar Hundert Kilometer von uns entfernt wieder Menschen, brennen wieder Häuser und rüsten sich Paramilitärs, die auch vor Linken keinen Halt machen würden. Die Grenze auch in unseren Denken und Handeln ist da. Es nützt auch nichts sie wegzudiskutieren oder aus moralischen Gründen so zu tun, als gäbe es dieses Denken bei uns nicht. Wir müssen ehrlich zu uns sein: wir sind keine europäische revolutionäre Linke. Wenn wir das aber werden wollen, müssen wir das offen diskutieren, uns Strategien überlegen und danach handeln. Denn so groß die Gefahren sind, die mit einem mächtigen europäischen Superstaat mit rechten Tendenzen auf einen zukommen, so groß sind doch auch die Chancen, die Kräfte dagegen zu bündeln. Denn klar ist spätestens seit Lenins Aussage (1), dass es in Deutschland wohl eh nie zu einer Revolution kommen würde. Vielleicht haben wir da zusammen mit den französischen, griechischen, spanischen, portugiesischen, tschechischen, englischen, irischen … GenossInnen ja mehr Glück.
1) „Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas, wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“
Erschienen in barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Dezember 2012