Unruhen in Venezuela – faschistische Banden oder enttäuschte Massen?

In den hiesigen Medien wurde die politische Krise in Venezuela von den Entwicklungen in der Ukraine überschattet, so dass es schwierig war und ist, an Informationen zu kommen. Wenn, dann sind diese eindeutig ideologisch gefärbt. Letztlich ist das sozialistische Projekt vielen ein Dorn im Auge, die aufgrund ihrer privilegierten Stellung im Kapitalismus jede Art der Systemkonkurrenz fürchten. Was ankam, war folgerichtig die Information, dass es angeblich massive Polizeigewalt gegen friedliebende DemonstrantInnen gegeben hätte. Die Toten wurden nahezu ausschließlich der Regierung zugeschrieben und die USA mahnten die Regierung zur Mäßigung.

Soweit die Propaganda, doch wenn man die Fakten betrachtet, sieht das Ganze schon anders aus. Werfen wir doch zuerst einen kurzen Blick auf die wirtschaftliche Situation:
Im letzten Jahr musste Venezuela einen dramatischen Anstieg der Inflationsrate hinnehmen. Die erhöhte Geldmenge wird nicht ausreichend in produktive Strukturen investiert, sondern durch den privaten Groß- und Einzelhandel in Form von andauernden Preiserhöhungen abgestaubt. Da diese Gewinne in der Landeswährung schnell an Wert verlieren, versuchen die privaten Unternehmen das Geld auf dem schwarzen Markt möglichst in ausländische Währungen, mit Vorliebe in Dollar, umzutauschen. So haben der private Einzelhandel und der Devisenschwarzmarkt die Inflationsrate im vergangenen Jahr auf 56 Prozent getrieben. Dies ist der schlechteste Wert seit Amtsantritt der Regierung Chávez im Jahr 1998. Letztlich gestaltet sich die Öffnung der Privatwirtschaft also als Problem und nicht die konsequente Durchsetzung der Verstaatlichung und der Kollektivierungen. Auch an den Devisenmärkten und beim Währungshandel hatte die Regierung Maduros Lockerungen vorgenommen, was sich auf die hiesige Wirtschaft negativ auswirkte. Trotz steigender Mindestlöhne und einem Versorgungssystem, das in Lateinamerika zu den besten zählt, leiden vor allem die ärmeren Menschen mehr und mehr an den Folgen der Inflation.

In diesem Klima, in dem es zu Warenengpässen kam und die Kriminalitätsrate rasant anstieg, versuchte die Opposition zu intervenieren. Doch wer ist eigentlich diese Opposition?

Leopoldo Lopez ist eine der Galionsfiguren der Opposition und setzte sich und seine Verhaftung in Szene um die Proteste weiter anzuheizen. Der 42-Jährige hat in Harvard studiert, pflegt gute Kontakte in die USA und war auch am fehlgeschlagenen Putsch gegen Hugo Chavez im Jahr 2002 beteiligt. In diesem, so hatte sich später herausgestellt, spielte die CIA damals eine zentrale Rolle. Daher ist nicht von einer reinen Verschwörungstheorie auszugehen wenn Maduro ihn heute als CIA-gesteuerte Marionette darstellt. López war ebenso Bürgermeister des schicken Viertels Chacao, einer Bastion der Oberschicht. Und da kommen wir auch der realen Zusammensetzung der Protestbewegung ein ganze Stück näher. Tatsächlich setzt sich diese mehrheitlich aus Studierenden und anderen Angehörigen der Oberschicht zusammen, die bereits seit der Chavez-Ära um ihre Privilegien fürchten und seitdem einen Kampf gegen das sozialistische Projekt führen. Wie die Anschlags-und Putschversuche in der Vergangenheit zeigten, ist ihnen für ihren Klassenkampf jedes Mittel recht und billig.

Der Rest der Protestierenden kommt aus den verschiedensten Lagern: vom Jugendlichen, der Angst um seine Zukunft hat bis zum Faschisten ist alles dabei und dementsprechend gespalten ist das Oppositionslager. Von den diversen Gruppen und Zusammenhängen, die das Anti-Regierungsbündnis stellen, ist keine einzige landesweit verankert und das Fazit der venezolanischen Bevölkerung fällt auch dementsprechend aus. Nicht einmal ein Viertel der VenezolanerInnen halten die Straßenproteste für sinnvoll oder glauben, dass die Ablösung von Präsident Nicolas Maduro irgendwelche Verbesserungen bringen würde. Dagegen würden fast 30 Prozent empfehlen, ein Referendum zur Abberufung abzuwarten und die überwiegende Mehrheit des Landes, nämlich fast drei Viertel der Befragten, ist der Auffassung, dass eine solche Entscheidung grundsätzlich nur auf dem Weg der Wahlen getroffen werden sollte.

Keine VerliererInnen in Venezuela?

Doch was bedeuten diese Zahlen? Ist die Mehrheit der Menschen in Venezuela glücklich und zufrieden und hat vollstes Vertrauen in ihre politischen Institutionen? Auch in Venezuela ist nicht von einem sozialistischen Paradies auszugehen. Wenn auch die Schritte, die vor allem Chavez unternommen hat, durchaus nachhaltig waren. Bei der Besetzung des Parlamentes achtete er zum Beispiel darauf, dass ProletarierInnen die Ämter besetzten und schaffte somit ein ganz neues Selbstbewusstsein der ArbeiterInnenklasse Venezuelas. Auch die Investitionen in die Sozial, – Bildungs- und Gesundheitssysteme haben die ärmeren Menschen stark an die sozialistische Regierung gebunden. Fast drei Viertel der venezolanischen Jugendlichen halten das aktuelle politische System der partizipativen Demokratie für das bestmögliche und glatte 60 Prozent betrachten den Sozialismus als bestes Wirtschaftssystem. (Quelle: landesweite Untersuchung des Ijnstituts GIS XXI)

Insgesamt geben diese Zahlen recht deutlich die Ergebnisse der chavistischen Sozialpolitik wieder. Bei der Frage nach den wichtigsten Problemen des Landes spielen die klassischen Armutsthemen Lateinamerikas – Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnen und öffentliche Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung – unter Jugendlichen praktisch keine Rolle mehr. Stattdessen werden die Kriminalitätsentwicklung (23 Prozent), die steigenden Lebenshaltungskosten (20 Prozent) und Probleme bei der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs (16 Prozent) genannt, aber selbst hier zeichnet sich kein eindeutiges Großthema für die Opposition ab. Gerade bei ihrem wichtigsten Thema, der seit Jahrzehnten zunehmenden Gewaltkriminalität, steht die Argumentation der Opposition zudem auf äußerst wackligen Beinen, denn die höchsten Kriminalitätsraten verzeichnet das Land in den von der Opposition regierten Bundesstaaten Miranda, Táchira, Zulia und Mérida, wo sie selber für die skandalöse Ineffizienz der Polizeibehörden und der Staatsanwaltschaften verantwortlich ist.

Die offensichtlichste Verliererin in Venezuela ist die Oberschicht: Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben die reichsten 20 Prozent des Landes im vergangenen Jahrzehnt etwa zehn Prozent ihrer Einkommen verloren. Gleichzeitig sind die Löhne der vier unteren Einkommensschichten anteilig jeweils um zwei bis drei Prozentpunkte gestiegen. Diese Tendenz gerät aber mehr und mehr in Gefahr. Wenn die Regierung aufgrund der Inflation den Sachzwang Vorrang gibt und weitere Liberalisierungen der Wirtschaft vornimmt, ist der Weg des Landes vorgezeichnet – ähnlich wie auf Kuba. Die Schere zwischen arm und reich könnte dann bald schon wieder stark auseinander gehen. Zusätzlich ist Maduro wesentlich weniger charismatisch und umsichtig als sein Vorgänger Chavez. Alles in einem kann nur die radikale Umsetzung der sozialistischen Idee das Projekt Venezuela aufrechterhalten. Die Macht muss mehr auf die Basiskomitees übergehen und die Verkollektivierung der Betriebe muss radikal umgesetzt werden. Jeder Schritt zurück und jedes Zögern ist ein Zugeständnis an eine Opposition, die zwar momentan politisch noch recht schwach auf der Brust ist, die aber an jedem Fehler der Regierung wächst.

Erschienen in barricada – Mai/Juni 2014