Mali

„Die Mächte wechseln- die Interessen bleiben!“
(Französischer Außenminister 2012)

In diesen Tagen wird sich so manch einer verwundert die Augen gerieben haben und dabei folgende Fragen gestellt haben:
Es herrscht Krieg in Mali? Gegen ein paar hundert Wüstenkrieger? In Mali, einem der ärmsten Länder der Welt, das bisher nur durch Hungerkatastrophen von sich reden machte, muss Krieg geführt werden? Wo liegt denn Mali überhaupt?
Zunächst ein paar Fakten zu Mali: Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 30%. Sie dürfte sich in den letzten Jahren verdreifacht haben. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat keinen sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 48 Jahren. Es gibt Mangelernährung sowie gravierende Probleme bei der Hygiene. Infektionskrankheiten wie Cholera und Tuberkulose treten regelmäßig auf. 74% aller mindestens 15 Jahre alten Personen sind Analphabeten. Das Land leidet unter einer Bevölkerungsexplosion, aber nur etwa vier Prozent Malis besteht aus Ackerland. Die Ernten sind immer wieder von Dürren bedroht. Im krassen Gegensatz dazu steht die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Personen von sage und schreibe 70%!
Bei diesen Fakten ist es doch klar, was die Menschen dort am dringendsten brauchen: einen Krieg! Inzwischen irren über eine Viertelmillion Menschen im Land umher, viele flüchten sich in die Nachbarländer – der bürgerlichen Presse zufolge auf der Flucht vor den Islamisten. Doch ist es nicht in erster Linie die Flucht vor dem nun ausgebrochenen Krieg? Vor den Bomben, die auf die Tuareg-Städte Azawads herunter regnen und den französischen Panzern?
Glaubt man einschlägigen Wirtschaftsmagazinen ist Mali nicht arm. Die Menschen sind es! Es gibt in Mali Gold, Erdöl, Erdgas, Phosphat, Uran, Seltene Erden und andere Bodenschätze. Dadurch begründet sich auch die strategische Bedeutung von Mali, welche diverse westeuropäische Politiker in diesen Tagen überbetonen. Wie nahe es doch an Europa und wie gefährlich die Ausbreitung der Al Kaida im Maghreb für „unsere“ westlichen Länder sei, heißt es. Tatsächlich? Liegt da nicht noch die ganze Sahara zwischen Mali und Nordafrika? Sind da Libyen und Syrien nicht viel näher, wo man gerade die Islamisten an die Macht brachte oder bringt?
Mali, eines der ärmsten Länder der Welt und gleichzeitig das afrikanische Musterland in Sachen Demokratie, dem Westen immer zu Diensten. Mali erfüllte alle Vorgaben von IWF und Weltbank, „die Hausaufgaben wurden gemacht“, der Staat zog sich aus allem zurück, Bahn, Schulwesen, Krankenversorgung wurden privatisiert. Die Folge der Privatisierung war, dass die Bahn eingestellt wurde, sie hat sich halt nicht gerechnet (obwohl viele Dörfer, die an der Strecke lagen, vom Bahnverkehr lebten), dass ein funktionierendes Schul- und Gesundheitswesen praktisch nicht mehr existent ist. Wie immer hatten die ungeliebten Tuareg des Nordens am meisten unter dem Privatisierungsdiktat zu leiden, es kamen dort überhaupt keine Gelder mehr an.
Bei dem Krieg Frankreichs in Nordmali geht es nicht um die Abwehr von bösen Islamisten oder um Demokratie, sondern es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen, in erster Linie denen Frankreichs, um unschätzbare Rohstoffe, die im Norden Malis auf ihre Förderung warten.
Um den Konflikt, der jetzt im Norden Malis ausgebrochen ist, wirklich zu verstehen, muss man etwas in die Geschichte zurückblicken. Als im 19. Jahrhundert Frankreich seine Kolonialgebiete immer weiter in den Süden Afrikas vorschob, leisteten die Tuareg lange und erbitterten Widerstand. Erst 1917 konnte ein Friedensvertrag geschlossen werden. Die Tuareg ziehen seit jeher nomadisierend durch Gebiete der Sahara und des Sahels, verstreut über die Staaten Mali, Algerien, Libyen, Niger und Burkina Faso. Grenzen existieren für sie faktisch nicht und alle Regierungen tolerierten bisher ihre nomadische und grenzüberschreitende Lebensweise. Mit dem Entstehen der nachkolonialen afrikanischen Staaten in den 60er Jahren wurde es für die Tuareg schwierig, da schwarze Bevölkerungsmehrheiten die Regierungen stellten und die Tuareg in Mali und Niger marginalisierten. Dies hatte mehrere Aufstände zur Folge, da sich die Situation der nomadischen Völker durch Dürrekatastrophen verschärfte. Hungersnöte und Massensterben wurden von den Regierungen Malis und Nigers schlichtweg ignoriert, die Aufständischen bekämpft, Weideland in Bauernland umgewandelt, die Tuareg nicht an den Einnahmen durch den Abbau von Uran und anderen Bodenschätzen beteiligt. 1996 kam es zu Friedensverhandlungen, Selbstverwaltung und Katastrophenvorsorge wurden vereinbart, in Mali konnten sich die Tuareg selbst dezentral in Kidal verwalten. Diese Zusage war aber mehr den Umständen geschuldet als der Einsicht der Zentralregierung in Bamako. Denn tatsächlich war der Norden Malis schon lange der Kontrolle Bamakos entglitten.
Wie schon bei Ausbruch des Libyenkrieges 2011 befürchtet, zogen sich viele Tuareg, die in der libyschen Armee gedient und treu zu Muammar Gaddafi gestanden hatten, nach seiner Ermordung unter Mitnahme ihrer Waffen über den Niger in den Norden Malis zurück und destabilisierten das eh schon mehr als brüchige malische Staatswesen weiter. Am 6. April 2012 riefen die Tuareg-Rebellen im Norden Malis ihren eigenen Staat Azawad aus. Doch auch in Azawad wurde und wird zwischen verschiedenen Gruppen um die Macht gekämpft, zwischen Stämmen und verschiedenen mehr oder weniger religiösen Ausrichtungen. Da im Moment islamistische Kräfte die Übermacht zu haben scheinen, diente dies unter Beifall der anderen westlichen Staaten zur Begründung Frankreichs für einen Krieg gegen Azawad.
Tatsache ist, dass die Tuareg de facto schon lange Jahre unter eigener Verwaltung in Nordmali leben, dass sich die Tuareg auch durch Schmuggel aller Art finanzieren und in Nordmali wohl schon lange eine Art Scharia herrscht. Neu war nun die Ausrufung eines eigenen Staates. Dies hängt sicher auch mit der Frage zusammen, wer an den Bodenschätzen, die sich im Norden Malis befinden und viel größer sind als bisher vermutet, verdienen wird. Gehen die Einnahmen an die Zentralregierung, die eng mit Frankreich verbunden ist, werden die Tuareg wohl wieder leer ausgehen, wie schon die Erfahrungen mit den Uranminen im Niger und andere Beispiele zeigen. Dies dürfte auch der Grund sein, warum der Führer der Rebellengruppe Ansar Dine Anfang 2012 weitere Verhandlungen mit der Regierung in Bamako absagte. Viele Bodenschätze liegen im Tuareg-Rebellengebiet: Bei Kidal gibt es große Uranlager, bei Gao und im Tal von Tilemsi immense Phosphatvorkommen, des Weiteren werden große Erdgas- und Erölvorkommen unter dem Sand der Sahara in den Gebieten der Tuareg vermutet. Frankreich hat also sehr vitale Interessen in Nordmali und beste Beziehungen zur Zentralregierung in Bamako. Man darf davon ausgehen, dass im Falle eines Sieges die Bodenschätze unter den Siegern verteilt werden. Der jetzige kriegerische Alleingang Frankreichs will auch Frankreichs Ansprüche in seinen ehemaligen kolonialen Gebieten – auch gegenüber den USA – sichern. Da unterscheidet sich die Mali- und Syrienpolitik Hollandes in Nichts von der seines Vorgängers Sarkozy in Libyen.
An der Proklamation des neuen Staates Azawad zerbrach die schwarze malische Zentralregierung. Im März 2012 wurde der Präsident Malis durch einen Militärputsch zur Flucht gezwungen. Die Putschisten warfen ihm vor, zu lax gegen die Sezessionsbestrebungen vorgegangen zu sein. Inzwischen wurde die Macht von den Putschisten an den malischen Parlamentspräsidenten Traoré für eine Übergangsperiode übergeben. Mit der Behauptung, die Rebellen – sprich Islamisten – setzten sich in Richtung Hauptstadt Bamako in Bewegung, bat dieser nun um ein militärisches Eingreifen Frankreichs. Dass die Kämpfer für die Sezession der nördlichen Gebiete die weit im Süden gelegene Hauptstadt Malis einnehmen wollten, erscheint völlig absurd und muss als Vorwand für den Beginn des Krieges gegen Azawad gesehen werden.
Es gibt also verschiedene Gruppierungen von Aufständischen in der Sahelzone. Es kämpfte nicht nur die säkulare Rebellengruppe „Nationale Bewegung für die Befreiung von Azawad“ (MNLA) für ein selbstbestimmtes Azawad, sondern es kämpfen auch verschiedene islamistische Gruppen für die Unabhängigkeit Azawads von Mali.
Wichtig zur Bewertung der aktuellen Situation ist, dass auch die Tuareg und andere Ethnien Nordmalis wie Fulbe und Kunta islamischen Glaubens sind, wenn auch in unterschiedlich strenger Ausprägung, wobei aus kulturellen Gründen viele Tuareg eher einem soften Islam zuneigen. Trotzdem gibt es bei den verschiedenen Rebellengruppen viele Überschneidungen, Gruppen verbünden sich und überwerfen sich wieder. So ist der Führer der Gruppe Ansar Dine (Verteidiger des Islams) ein Tuareg, der schon bei den Tuareg-Aufständen in den 90er Jahren eine wichtige Rolle spielte.
Auch was die Empörung gegen die Forderung nach dem islamischen Recht im neuen Staat Azawad betrifft, kann dem Westen nur Heuchelei vorgeworfen werden. Unterstützt man nicht gerade in Syrien jene Islamistengruppen im Kampf gegen Assad, die man in Nordmali bekämpft? Sind nicht bei den „Aufständischen“ in Syrien, die jubelnd im deutschen Fernsehen gezeigt werden, die gleichen schwarzen Salafisten-Fahnen zu sehen wie bei den islamischen Tuareg-Aufständischen in Nordmali? Dort gute Salafisten, weil gegen Assad? Hier schlechte Salafisten, weil gegen westlich ausgerichtete Zentralregierung in Bamako?

Weitere Hintergründe zur besseren Einschätzung der aktuellen Situation in der Sahelzone:

Eine wichtige Rolle für die derzeitige Situation in Mali hatte auch der im März 2011, von Frankreich, England und den USA geführte Krieg, gegen das damalige Lybische Regime. Der damals weitreichende Einfluss des ehemaligen lybischen Machthabers Gaddafi, welcher sicher immer wieder durch großzügige Investitionen in Westafrika insbesondere in Mali hervortat, löste durch seinen Tod Wanderbewegungen der zu seinen Lebzeiten ihm treu ergebenen schwerbewaffneten Tuareg Rebellen aus, welche 2012 ihren eigenen Staat Azawad proklamierten.
Sofort nach dem 2012 der Tuareg Staat ausgerufen wurde, kamen Überlegungen auf, eine westafrikanische Interventionstruppe namens Ecowas zu gründen, so wie die Errichtung einer speziellen TaskForce Sahel von führenden Nato-Staaten.
Ohne den militärischen Sachverstand und der hervorragenden Bewaffnung der ehemaligen Tuareg-Söldner von Gaddafi (deren Zahl zwischen 300 bis mehrere tausend geschätzt wird) wäre die Errichtung ihres Staates zunächst so nicht möglich gewesen. Um den Staat ausrufen zu können bekamen die Tuareg auch massive Unterstützung von zahlreichen islamistischen Gruppierungen. Die genauen Konstellationen sind unübersichtlich.
Über die letzten Monate hat sich in dem von den Tuareg proklamierten Staat scheinbar tatsächlich eine Verschiebung des Kräfteverhältnis stattgefunden. Bis vor dem Einmarsch französischer Truppen sollen mehrere islamistische Milizen in einigen Regionen des Tuareg-Staates die Oberhand gewonnen haben. Dies ist auch der Grund warum es beispielsweise in Timbuktu zu der Zerstörung von Weltkulturerbeschätzen kam.
Dennoch wurde bereits am 6 Juli 2012 im UN Sicherheitsrat diesbezüglich ein Truppenaufmarsch besprochen um durch diese Drohkulisse die Tuareg und ihre Verbündeten in die Schranken zu weisen.
Im April 2012 fanden die letzten regulären Wahlen in Mali statt. Diese gingen einher mit massiver Repression gegenüber diversen oppositionellen Gruppierungen und Parteien. Frei und fair wie es damals von den internationalen Wahlbeobachtern geheißen hat, seien die Wahlen trotz des Krieges im Norden des Landes gegen die Tuareg abgelaufen. Gewählt wurde, als das 70 000 Mann starke Heer von Mali gerade von der MLNA im Norden Malis aufgerieben wurde. Dies war der Grund warum es kurz darauf zum Putsch kam. Der bisherigen Regierung wurde vorgeworfen nicht genug für die territoriale Integrität des Staatsgebiets zu tun. Ungeachtet von dem wurde der Regierung Inkompetenz, Korruption und eine anstehende Nahrungsmittelkrise vorgeworfen.
Die USA reagierte nach dem Militärputsch unmittelbar und schickte Spezialausbilder der US-Armee zur Terrorbekämpfung sowie Geld und Material für den Kampf gegen die Tuareg und deren Verbündeten im Norden.
Der neue Premierminister von Mali hat neben einem malischen noch einen US-amerikanischen Pass. Er ist Astrophysiker und war lange Zeit in einer führenden Stelle bei der US-Luft und Raumfahrtbehörde NASA tätig. Weiter war er seit 2006 Chef von Microsoft Afrika.
Dieser Mensch hat nun die Aufgabe diesen umfassenden Konflikt zu lösen. Es werden sämtliche Nachbarstaaten unmittelbar von dieser „Krise“ tangiert. Die Tuareg sind über sechs Länder verteilt. Beinahe 600 000 Menschen leben in den von ihnen ausgerufenen Staat Azawads. Genau in diesem Gebiet, südlich der algerischen Grenze , befinden sich unvorstellbare große Mengen an speziellen Rohstoffen. Der französische Energiekonzern Areva ist mit der Förderung des Urans seit 1968 vor Ort. Seit dem stahl der Konzern über 100 000 Tonnen Uran aus diesem Gebiet. Die Folgen für Mensch und Umwelt sind katastrophal. Zu einer Beteiligung der Bevölkerung an den riesigen Gewinnen kommt es selbstverständlich nicht. Lediglich lokale Eliten versuchen sich daran zu bereichern. So wie dort verschlechtern sich die Lebensbedingungen nahezu überall in Afrika dramatisch. Sämtliche Rohstoffe die in Afrika entdeckt werden kommen den alten Kräftezentren, also Europa und Nordamerika zu gute. Jene Staaten in Afrika wo derartige Rohstoffvorkommen entdeckt wurden sind Abhängig von ihren Naturschätzen und damit von deren Abnehmern. Die Abnehmer sind einzig darauf aus, stabile Ausbeutungsstrukturen zu sichern. Die katastrophalen Lebensbindungen der Menschen interessieren sie nicht. Die daraus resultierenden Fluchtbewegungen versucht die europäische Union mit militärischen und polizeistaatlichen Mitteln abzufangen. Ein weiter beliebter strategischer Schachzug ist es, die lokalen Eliten in Afrika dazu zu bringen, ihre eigenen nationalen Repressionsinstrumente stetig auszubauen.
Auf den Hunger in der Sahelzone, der deshalb existiert, weil die europäische Union diverse Zollschranken errichtet, Nahrungsmittelimporte betreibt und diese hochsubventioniert und somit die heimische Produktion in Afrika kaputt macht, folgt ein breiter sozialer Protest. Dieser äußert sich nicht nur in ethnischen oder religiösen Konflikten. Auch diese sind lediglich eine unterschiedliche Erscheinungsebene .
Die alten Kolonialstaaten in Westeuropa und Nordamerika haben ihren geostrategischen Fokus verstärkt nach Westafrika verlegt wo sie an einer kompletten Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln mitwirken. Ziel ist es ihren eigenen Einfluss und die daraus resultierenden Profitmöglichkeiten weiter massiv auszubauen. Ein wichtiges Ziel ist es hierbei, die aufstrebende Wirtschaftsmacht China und Indien in diesen Regionen in die Schranken zu weisen.
Politik, Wirtschaft und Militärs des „Westens“ arbeiten bei diesem umfangreichen Langzeitunterfangen zur Sicherung ihrer Herrschaft Hand in Hand.

Erschienen in barricada – Februar 2013