Her yer Taksim, her yer Direni?!
Taksim ist überall, überall ist Widerstand!
Türkei – Geschichte eines Aufstands
Brennende Barrikaden, Millionen Menschen auf den Straßen und Straßenkämpfe mit der Polizei – was noch vor ein paar Monaten undenkbar war, spielte sich wochenlang in den verschiedensten Städten der Türkei ab. Doch woher kam dieser scheinbar plötzliche Aufstand, der sich durch alle Facetten der türkischen Bevölkerung zieht? Und was für eine Rolle spielte die revolutionäre Linke in diesem bunten Gemisch?
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, muss man in der Analyse weit vor den Beginn der Aufstände greifen. Die türkische Wirtschaft ist – ähnlich wie die deutsche– als Gewinnerin aus der Krise hervorgegangen. Nachdem die Türkei im Jahr 2001 ihre Krise mit Hilfe eines milliardenschweren Kredits des IWF erfolgreich im Sinne der kapitalistischen Logik bewältigen konnte, waren die goldenen Regeln des Sparens auf Kosten der Lohnabhängigen fester Bestandteil der türkischen Wirtschaft: Privatisierungen ohne Grenzen, kaum Gelder für öffentliche Belange und ein Einkommen weit unter dem europäischen Durchschnitt. Diese Standards galten aber natürlich nicht nur für die Krisenzeit, sondern ermöglichten dem türkischen Kapital einen rasanten Aufstieg in den vergangenen zehn Jahren. Der Wachstumsanstieg erfuhr lediglich in der europäischen Krise eine kurze Stagnation, da ein Großteil des Handels der Türkei mit dem europäischen Wirtschaftsraum stattfindet. Auch im letzten Jahr nahm das Wachstum leicht ab, was allerdings auch als bewusster Versuch gewertet werden kann, einen Ausgleich des Leistungsbilanzdefizites herzustellen. Die Türkei importierte sehr viel mehr, als sie exportierte und da hierfür eine schwache Währung von Nöten ist, drohte eine steigende Inflation.
Um mehr InvestorInnen ins Land zu ziehen, setzte die AKP bewusst auf Großprojekte im Immobilienbereich. Doch bei Shopping-Malls und Luxuswohnraum blieb Erdogan nicht stehen. Bis zum Jahr 2023 will die Türkei zu den zehn bedeutendsten Ländern der Welt gehören. Dann feiert die Republik ihr hundertjähriges Jubiläum. Bis dahin gibt Ankara für Infrastrukturprojekte und den Energieausbau Milliarden aus. Das macht die Türkei zu einem attraktiven Markt. Die Regierung investiert in das Schienennetz, in Flughäfen und Brücken. Atomkraftwerke, Kohlekraftwerke und Wasserkraftwerken sollen entstehen. Im Energiebereich will auch das deutsche Kapital Fuß fassen, welches außerdem in der Automobilindustrie und im Handel in der Türkei rege beteiligt ist.
Die Roma-Siedlung Sulukule ist von der AKP-Politik gleich mehrfach betroffen. Denn diese Siedlung ist nicht nur exemplarisch für die kapitalistische Stadtumstrukturierung, sondern auch für die islamischen Bestrebungen der AKP. Die historisch gewachsene Siedlung soll für den Bau von Luxuswohnungen komplett dem Erdboden gleich gemacht werden. Der Stadtteil Fatih, zu dem Sulukule wie der größte Teil der historischen Halbinsel gehört, hat sich seit den siebziger Jahren zum bevorzugten Wohngebiet der frommen Muslime entwickelt. Parallel zu dieser Entwicklung stieg der soziale Druck auf Sulukule. Anfang der neunziger Jahre wurden die Musikhäuser, in denen die Roma-Künstler ihre Musik machten, wegen „Moralverstößen“ geschlossen. Was der AKP nach ihrer Wahl 1994 im europäischen Amüsierviertel Beyoglu nicht gelang, setzte sie in Sulukule schon damals durch. Ein Übungsterrain also auch für die Alkohol- und Kussverbote, die ihren Teil zu den Protesten beitrugen.
Alle gegen Erdogan?!
Ein Punkt, mit dem Erdogan vor allem die KemalistInnen verärgert hatte, war, als er im Parlament fragte: „Wollt ihr dem Gesetz zweier Säufer folgen oder dem Gesetz Gottes?“ Seitdem spekulieren die Türken, wen ihr Premier gemeint hat. Für viele ist klar: Er spielte auf Staatsgründer Atatürk und dessen Ministerpräsidenten Inönü an – beide waren im Amt, als 1926 das Alkoholverbot fiel. KemalistInnen verstehen das als Angriff auf ihren Nationalheiligen und sind erbost.
Auch den „Friedensprozess“ mit den kurdischen Gebieten sehen KemalistInnen nicht gerne, da sie die KurdInnen nach wie vor nicht anerkennen und wenn, dann nur als Feinde einer vereinheitlichten türkischen Republik. Zu den Verhandlungen hat die CHP, die Partei der KemalistInnen, keine Vertretung geschickt und hat somit keinen Einfluss auf den Prozess. Sie fühlten sich von der Regierung übergangen und mit ihnen hat sich Erdogan einen mächtigen Feind in der Türkei geschaffen.
Mit dem Eingreifen in den syrischen Konflikt ist Erdogan noch ein Wagnis eingegangen, das in weiten Teilen der Bevölkerung wenig Unterstützung findet. Zum einen gibt es in den Grenzgebieten einen massiven Zuwachs von geflüchteten SyrerInnen in den Flüchtlingscamps und rund herum, was zu einer humanitären Katastrophe einerseits und zu steigenden rassistischen Momenten anderseits führt. Zum anderen kursieren nach wie vor verschiedene Erklärungsansätze rund um ein Autobomben-Attentat in der Grenzstadt Reyhanli: Während die Regierung neun linke Aktivisten als Täter präsentiert, vermuten die anderen, dass Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ hinter dem Anschlag stecken. Also eben jene, auf deren Seite sich die AKP im Syrien-Konflikt stellt.
Und als ob all diese Faktoren nicht ausreichen würden, um es sich mit den verschiedensten Teilen der türkischen Gesellschaft zu versauen, versucht Erdogan seine Macht auch noch für die Zeit nach seiner Regierungsphase in Zement zu gießen. Denn das Parteiengesetz verbietet Erdogan, bei der nächsten Wahl erneut anzutreten. Er setzt deshalb nun auf das Modell Putin: 2014 will er den Posten des Staatspräsidenten übernehmen, diesen aber zuvor mit erheblich mehr Machtbefugnissen ausstatten. Nicht einmal alle in der AKP unterstützen ihn darin. Bereits jetzt gibt es Mutmaßungen über einen parteiinternen Machtkampf.
Und so liefen bereits seit einiger Zeit tiefe Gräben durch eine Gesellschaft, die in Zeiten des „arabischen Frühlings“ von den westlichen Mächten noch als Paradebesipiel für einen modernen islamisch geprägten und doch säkularen kapitalistischen Staat gehandelt wurde.
1. Mai 2013
Rund um den 1. Mai ereigneten sich die ersten Gefechte um den Taksim-Platz. Die Regierung hatte sämtliche Mai-Demos auf dem Platz verboten. Dieser Platz ist jedoch in der politischen Geschichte der Türkei ein wichtiges Zentrum von linken ArbeiterInnenkämpfen und Jugendbewegungen. Auch als Ort der säkularen Republik hat der Platz eine hohe Bedeutung. Immer wieder gab es dort in der türkischen Geschichte Demonstrations -und Versammlungsverbote. Auch der 1. Mai war lange kein Feiertag und jegliche Art von Feierlichkeiten waren zeitweise verboten. Daher hat sowohl das Datum als auch der Platz einen hohen symbolischen Wert. Dass die Regierung in diesem Jahr dieses Verbot wieder aufleben ließ, hatte an sich schon eine politische Sprengkraft. Offiziell wurde eine Baustelle als Begründung herangezogen, Tage später duften andere Gruppierungen jedoch ohne weiteres dort Versammlungen abhalten und auch die Taksim-Proteste haben gezeigt, dass der Platz durchaus noch massig Raum für viele Menschen hat – ob mit oder ohne Baustelle. Am ersten Mai schlugen die Bullen mit massiver Gewalt gegen diejenigen los, die versuchten trotz Verbot auf den Platz zu kommen. Und die deutschen Medien hatten zu dieser Zeit noch nicht die Sympathie für die DemonstrantInnen aufbringen können, die sie ein paar Wochen später an den Tag legte. „Mai-Randale“, die „Polizei musste Wasserwerfer und Tränengas einsetzen“ waren die Kommentare hierzulande. Nur drei Wochen später aber wendetet sich das Blatt – sowohl auf dem Platz selbst, als auch in der deutschen Presse.
Der Beginn des Widerstands
Die Menschen, die zu Beginn der Bauarbeiten auf dem Platz waren und das Abholzen von Bäumen und das Vorrücken der Bagger verhindern wollten, waren bei weitem keine schlichten BaumliebhaberInnen – auch wenn uns die Grünen das gerne so verkaufen, um sich als Partei endlich wieder einmal anschlussfähig an soziale Proteste zu machen. Die ersten auf dem Platz waren vor allem „Recht auf Stadt“- AktivistInnen und undogmatische Linke. Leute, die etwas dagegen tun wollten, dass der Stadtteil mit dem Bau eines weiteren Shopping-Zentrums weitergehend privatisiert wird und in seiner Funktion kapitalistischen Profitinteressen unterworfen wird, statt als öffentlicher Raum erhalten zu bleiben.
Als die Bullen ihre ersten Angriffe starteten, standen schon etliche Menschen in den Startlöchern und über die sozialen Netzwerke verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer: Die Bullen wollen räumen. Sofort solidarisierten sich hochrangige PolitikerInnen der CHP, SchauspielerInnen und alles, was Rang und Namen hat. Die BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), reichte zusammen mit der CHP (!) eine Pressemitteilung ein, in der sie das Vorgehen der Polizei scharf kritisierten. Doch wie in den Wochen darauf auch, blieb die Regierung unnachgiebig. Die Strategie Erdogans war es wohl, die DemonstrantInnen einzuschüchtern. Er dachte wohl, dass sie im Kampf um ein paar Bäume schon bald aufgeben würden. Doch schon längst ging es um sehr viel mehr. Es ging nicht mal mehr nur um Gentrifizierung, Bäume oder Einkaufszentren: der Protest wuchs innerhalb weniger Tage zu einer Anti-Regierungsbewegung heran, deren Thema der autoritäre Staat, mit all seinen Pressezensuren, Bullen, Trinkverboten und so weiter, ist. Man muss sich vorstellen, dass man nachts in den Straßen Blendschockgranaten hört, das Tränengas noch am nächsten Tag in der Luft hängt, überall Menschen unterwegs sind, und doch berichtet in den ersten Tagen kaum ein Fernsehsender über die Proteste. Der Konsens, der sich durch alle Teile der Bewegung zog, war eindeutig: Tayyip, istifa! Tayyip, tritt zurück!
Bullen machen Jagd ?auf DemonstrantInnen
Tagelang tobten Kämpfe in den Straßen von Istanbul, Ankara und anderen Städten. Vielleicht wäre es an dieser Stelle aber auch angemessener von einer Hetzjagd der Polizei auf DemonstrantInnen zu sprechen. Denn bei aller Gegenwehr, die geleistet wurde, wurden die Protestierenden durch die Stadt gehetzt und in jeden Winkel von Tränengasgranaten verfolgt, wie die Szene in einem Hotel zeigte. Dorthin flüchteten sich nämlich Menschen – unter anderem auch Claudia Roth von den deutschen Grünen – und wurden im Hotel komplett mit Tränengas eingedeckt. Es gab kein Entkommen und etliche Verletzte und Bewusstlose konnten nicht sofort behandelt werden, weil den Krankenwagen der Zugang verwehrt wurde. Ein junger Mann, der sich in einem Cafe in Sicherheit bringen wollte, in das sie auch Tränengas warfen, twitterte: die wollen uns umbringen. Und nach einigen Tagen war es offiziell: Durch die Knüppel, Schläge, Schüsse, aber auch an Spätfolgen des Tränengas starben Menschen. Sie sind die Opfer eines ungleichen Kampfes geworden. Und trotz alledem ließen sich die Menschen nicht einschüchtern. Wieder und wieder waren sie zu hunderttausenden auf den Straßen und kämpften Seite an Seite gegen eine Regierung, die an keiner Stelle einlenkt.
Doch wer kämpfte da nun eigentlich Seite an Seite? AugenzeugInnen berichteten von unschönen Szenen, in der ein Linker einen Faschisten wieder auf die Beine half, nachdem dieser bei einem Bulleneinsatz gestürzt war. Inwieweit solche Gerüchte wahr sind, lässt sich von hier aus schwer beurteilen. Fest steht nur, dass es in den verschiedenen Städten auch verschiedene Protestbilder gab. In Istanbul zum Beispiel war die antikapitalistische Linke auf jeden Fall gut involviert und präsent in Ausdruck und Inhalt. Die KemalistInnen oder die MHP (Partei der FaschistInnen) waren das nicht. Ganz offiziell durften sie auch dort als Partei nicht am Camp oder an den Demos teilnehmen. In Ankara sah das wiederum ganz anders aus. Hier waren die KemalistInnen stärkste Kraft und die Linke hatte relativ wenig zu melden. Die MHP trat nach Beginn offiziell in die Proteste mit ein, wurde aber auch oft zurück geschlagen. Sie bekam auch nicht wirklich einen Fuß in die Strukturen und zog sich irgendwann von selbst wieder zurück. In der Betrachtung der MHP muss man sowieso eine Unterscheidung zu den Nazis hierzulande ziehen. Während Nazis hier eine politische Randgruppe bilden, die höchstens ein paar Parlamentssitze ergattern, haben die FaschistInnen in der Türkei mit der MHP eine akzeptierte Volkspartei geschaffen, die neben der AKP und der CHP die einzige Partei war, die bei den letzten Wahlen die 10% Hürde schaffte. Somit ist es auch schwerer sie aus dem öffentlichen Raum zurückzudrängen, ebenso wie aus einer Protestbewegung. Das soll zwar keine Entschuldigung dafür sein, dass das nicht überall mit letzter Konsequenz geschehen ist, erklärt aber die erschwerten Bedingungen für die AntifaschistInnen, welche in der Bewegung aktiv waren. Auch ist es auf einer Massendemo – die größte soll etwa zwei Millionen Menschen umfasst haben – schwer, alles mitzubekommen und darauf adäquat zu reagieren.
Insgesamt war die Masse ein Problem für die revolutionäre Linke – auch wenn das erst einmal widersprüchlich klingt – weil die massenhaften Aufstände ja das sein sollten, woraus sich revolutionäre Prozesse speisen. Und doch war es schwierig für die noch recht junge autonome undogmatische Linke, in den Protesten tatsächlich eine Rolle zu spielen. Immerhin war die Masse der Protestierenden wirklich Menschen, die vorher noch nie auf der Straße protestiert hatten. Es ist eine sehr junge Bewegung: Eine Umfrage, die nach der ersten Protestwoche durchgeführt wurde ergab, dass knapp über 90 Prozent der befragten AktivistInnen zwischen 19 und 30 Jahre waren. Von ihnen nehmen 54 Prozent das erste Mal überhaupt an einer Demonstration teil und 70 Prozent gehören keiner Partei an. Trotz alledem besteht nach wie vor ein Stadt-Land Gefälle. Großdemonstrationen und Kundgebungen finden vor allen Dingen in den Großstädten statt. Der Rückhalt der AKP im ländlichen Raum ist wesentlich stärker als in den Zentren, wenngleich auch dort Protestpotenzial vorhanden ist.
Ein weiterer Knackpunkt ist das Agieren der kurdischen Bewegung, die von Beginn an ein Bestandteil der Proteste am Gezi-Park war. Die von einigen befürchtete Entsolidarisierung der kurdischen Organisationen gegenüber der Gezi-Park-Bewegung hat nur teilweise stattgefunden. Abdullah Öcalan hatte aus dem Gefängnis heraus dazu aufgerufen, sich mit ihr zu solidarisieren, die BDP hat selbstverständlich ihren Stand auf dem Parkgelände und beteiligt sich aktiv an den Diskussionsprozessen. Der konservative Teil der BDP allerdings verurteilte die Proteste und warf ihnen vor, den Friedensprozess zu gefährden.
Wie weiter?
Nach über drei Wochen Kampf kann man sich vorstellen, dass die Menschen schlichtweg ausgelaugt sind. Was es jetzt bräuchte, ist eine neue, frische Riege der Protestierenden, die die nächste Protestwelle tragen kann. Passend dazu hatten fünf Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Die zahlreichen ArbeiterInnen, die seit Wochen nach ihrem Job das Protestcamp unterstützen, würden so entlastet und neue Kraft könnte die Bewegung weiter tragen. Soweit die Theorie. In der Praxis konnte sich bisher dieser Druck noch nicht richtig entfalten. Zwar war der Generalstreik von etlichen Organisationen aus dem öffentlichen Dienstleistungssektor getragen, jedoch war die Beteiligung im Gegensatz zu den anderen Massendemos relativ gering.
Dies kann natürlich daran liegen, dass die Bewegung eher von der viel zitierten „gebildeten jungen Mittelschicht“ getragen wurde, die es nicht geschafft hat, den Nerv der ProletarierInnen in letzter Konsequenz zu treffen. Ein Kaffeehausbesucher am Rande des Taksim Platzes meinte sinngemäß, dass sie die Bäume, die für ihre Eliteunis gefällt werden, ja auch nicht interessieren. Das ist wohl keine allgemeingültige Sicht der Dinge, weil sich sonst nicht Millionen von Menschen mit den Protesten solidarisiert hätten, aber auch diese Sicht ist vorhanden und wird natürlich auch von der AKP geschürt, um die Bewegung zu spalten und abzuwerten.
Ein anderer Grund ist der niedrige Organisierungsgrad der ArbeiterInnen. Auf Grund der jahrzehntelangen repressiven Politik gegen gewerkschaftlich Engagierte ist die Zahl der Beschäftigten, die organisiert sind, relativ gering. Laut Angaben von labournet.de werden in Statistiken bereits Regionen als gewerkschaftlich stark bezeichnet, in denen ein Organisationsgrad von 5 Prozent besteht. Die Zahl der tariflich abgesicherten Arbeitsverhältnisse liegt seit fast 20 Jahren unter der Millionengrenze. Seit dem verlorenen Kampf der ArbeiterInnenvertretungen gegen die erste Welle der Privatisierungen unter der Regierung Özal, haben sich die Gewerkschaften nicht mehr richtig von dieser Niederlage erholen können.
Tausende kleine Geschichten gäbe es wohl noch am Rande zu erzählen. Viele humorvolle Parolen und Transparente, das Ausprobieren von Basisdemokratie, das Erleben von Solidarität, das Sammeln von 100.000 Dollar innerhalb von zwei Tagen um einen Artikel in der New York Times zu finanzieren, das solidarisierende Lärm-Machen in den Abendstunden vom Fenster heraus und vieles vieles mehr. Es sind die kleinen Geschichten, die vielen Menschen Zuversicht, Hoffnung und den Kampfesmut schenken. Auch wenn die meisten nun keine organisierte Politik machen, werden sie etwas mitnehmen, werden kritischer mit dem umgehen, was ihnen erzählt wird, durften erfahren, wie sich Solidarität anfühlt. Doch auf der anderen Seite stehen auch die Frustration, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Bullengewalt und natürlich eine massive Welle von Verhaftungen und Repression, welche die AktivistInnen erstmal in Atem halten dürfte. Und deswegen ist klar: Das Leben im Camp auf dem Taksim ist nicht das Ziel, sondern war ein Kampfmittel – das richtige zur richtigen Zeit. Doch auf Dauer muss die Energie auch wieder dezentralisiert werden und genau das versuchen die AktivistInnen nun. Der Ansatz, die Bewegung nun in den Stadtteilen zu verankern ist wichtig und gut, aber aus der Erfahrung aus anderen Bewegungen muss man realistischerweise sagen, dass dies die schwierigste aller Aufgaben ist. Viele linke Gruppen dürften sich über einen Schwung neuer Leute freuen. Aber die anderen – der große Teil der Masse wird das Problem sein. Die Menschen kehren zurück in den Alltag, sind oft frustriert und schwer bei der Stange zu halten. Vielleicht werden sie sogar weitermachen bis Erdogan weg ist, aber das darf nicht das alleinige Ziel sein. Wer den Spielleiter austauscht, spielt nachher immer noch nach denselben Regeln. Vielleicht variieren sie wieder ein bisschen, vielleicht darf man dann in der Türkei wieder küssen und trinken wann und wo man will, aber am Problem der kapitalistischen Alltagshölle ändert das nichts – außer dass man seinen Frust vielleicht mit Alkohol zuschütten kann. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es nicht mit einer revolutionären Bewegung, sondern mit einer Demokratiebewegung zu tun haben. Aber das, was diese Millionen von Menschen erlebt haben, wird Bestandteil ihres Lebens bleiben und im richtigen Moment werden sie sich vielleicht doch an die Stärke erinnern, die einen nur der kollektive Kampf verleihen kann.
Erschienen in barricada – Juli 2013