Griechenland: Ein Jahr nach dem Aufstand

Im Dezember 2008 kam es zu den größten Straßenkämpfen in Griechenland seit Jahren. Konkreter Auslöser war die Erschießung des 15jährigen Schülers Alexandros Grigoropoulos am 6. Dezember durch den Polizisten Epaminondas Korkoneas. Nach dem Mord wurden Schulen und Universitäten besetzt, Polizeiwachen und andere Symbole des Staates angegriffen, Banken entglast, Geschäfte geplündert. In fast allen Städten Griechenlands kam es zu Aktionen und Demonstrationen, meist getragen von Jugendlichen. Die plumpen Versuche Teile des Staates und der Repressionsbehörden, den Mord als unglücklichen Unfall, den Polizei-Mörder als unschuldiges Opfer darzustellen, mobilisierten Tausende durch Polizeiterror gegängelte Jugendliche auf die Straßen Griechenlands um ihre Wut gegen die Büttel des Systems zu richten.

Die einige Wochen andauernden Straßenkämpfe unmittelbar nach dem Mord waren aber auch ein Aufstand gegen den gesamten griechischen Staat, der bei sehr vielen seiner BürgerInnen ohnehin nie beliebt war, und der, vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise, immer weniger in der Lage ist, den Menschen eine akzeptable Zukunftsperspektive zu bieten. Hinzu kam die über Jahre gewachsene Unzufriedenheit über die neoliberale Politik der damals regierenden Partei Nea Dimokratia, die vor allem StudentInnen das Gefühl gab, als eine Art Versuchskaninchen beim Umbau des Bildungssystems mißbraucht zu werden und das ohnehin schon schlechte Bildungssystem in Griechenland mit zahlreichen neoliberalen „Reformen“ verunstaltete.
Auch wenn in diesen letzten Wochen des Jahres 2008 in Griechenland der Ausnahmezustand herrschte, auch wenn mehrere Hundert Soldaten aus 45 Kasernen Griechenlands es für notwendig gehalten haben, öffentlich zu erklären, dass sie nicht auf DemonstrantInnen schießen werden, um einer militärischen Niederschlagung zuvor zu kommen, hat sich der Aufstand nicht in eine Revolution verwandelt.

Die alte Regierung geht

Ein Jahr später hat sich vor allem eines geändert: Die Zusammensetzung der griechischen Regierung. Die ehemalige Regierungspartei, die rechte Nea Dimokratia, hat bei den letzten Parlamentswahlen am 4. Oktober 2009 eine starke Niederlage hinnehmen müssen. Die in der Bevölkerung unbeliebten neoliberalen „Reformen“ und vor allem zahlreiche Korruptionsskandale dürften aber eher den Ausschlag für das Wahlergebnis gegeben haben, als der Dezember-Aufstand. Besonders stark erschüttert wurde die alte Regierung durch einen Skandal um umstrittene Immobilientransaktionen zwischen dem griechischen Staat und dem Athos-Kloster Vatopedi. Das Kloster machte Besitzansprüche auf den ihm angeblich vor fast 1000 Jahren von byzantinischen Kaisern vermachten Vistonida-See geltend. Obwohl diese Ansprüche des Klosters zweifelhaft waren, wurden sie vom Staat anerkannt: Im Tausch gegen den See mit seiner gesamten Wasseroberfläche und allen Ufergrundstücken erhielt das Kloster 260 wertvolle Grundstücke in  Tourismus-Gebieten, die es teilweise sogleich mit Gewinn weiterverkaufte. Da die vom Kloster beanspruchten Seegrundstücke stark überbewertet wurden und die staatlichen Tauschgrundstücke stark unterbewertet wurden, ist dem Staat ein Schaden entstanden, der auf 100 Millionen Euro beziffert wird. Dieser Immobilienskandal und die allgemein krisenhafte finanzielle Situation des Landes waren wesentliche Gründe dafür, dass Ministerpräsident Kostas Karamanlis im September 2009 vorgezogene Neuwahlen ankündigte.

Die Sozialdemokraten  in der Rolle des Bluthundes
Nach einem erdrutschartigen Sieg regieren nun die Sozialdemokraten von der Panellinio Sosialistiko Kinima, kurz PASOK, mit absoluter Mehrheit (160 von 300 Abgeordneten). Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) sind mit 21 bzw. 13 Sitzen im Parlament vertreten, verloren also je einen Sitz. Von einem hoffnungsvollen Linksrutsch kann aber kaum gesprochen werden. Tatsächlich haben die Neoliberalen den Sozialdemokraten ein kaputtgewirtschaftetes, von Korruption gebeuteltes Land übergeben und sich selbst relativ elegant aus der Affäre gezogen. Nun sind es die Sozialdemokraten, die von der EU und dem Kapital unter Druck gesetzt werden, kapitalistische Reformen gegen die Interessen der Lohnabhängigen durchzusetzen, zur Not natürlich auch mit Gewalt. Wegen der enormen Staatsverschuldung ist Griechenland darauf angewiesen, als kreditwürdig zu gelten. Während aber die Ratingagenturen (Privatunternehmen, die nach bestimmten Kriterien die Kreditwürdigkeit von Unternehmen und Staaten festlegen) aber bei der rechten Vorgängerregierung immer ein Auge zugedrückt hatten, wurde nach der Wahl Griechenland stark herabgestuft.

Der Jahrestag der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos
Vor diesem Hintergrund der schwerwiegenden ökonomischen Krise Griechenlands und anstehender drastischer Sozialkürzungen waren die Erwartungen für die Proteste am Jahrestag der Erschießung von Alexandros Grigoropoulos hoch: Die radikale Linke erwartete sich ein starkes, gegen den kapitalistischen, repressiven Staat gerichtetes Signal, die staatlichen Behörden waren jedoch auch vorbereitet und setzten über 10000 PolizistInnen ein, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Dennoch kam es zu Straßenschlachten. Auch in Deutschland gab es militante Aktionen zum Jahrestag. So wurde in z.B. Hamburg eine Polizeiwache angegriffen. Einen Tag nach dem Jahrestag demonstrierten in zahlreichen Städten Griechenlands viele Tausend Menschen gegen Polizeigewalt, die nicht lange auf sich warten ließ: Von 5. bis 7. Dezember 2009 wurden mindestens 823 Menschen in Gewahrsam genommen, von diesen wurden 159 offiziell verhaftet und angeklagt. Obwohl nach BRD-Maßstab beeindruckend, fielen die Proteste verglichen mit den Ereignissen von 2008 aber eher klein aus.
Etwa eine Woche nach dem Jahrestag,  stellte der amtierende sozialistische Regierungschef Giorgios Papandreou am 14. Dezember Maßnahmen zur Sanierung des Staatshaushalts vor. Geplant ist eine Kürzung der Staatsausgaben um zehn Prozent, unter anderem durch eine Begrenzung der Gehälter höherer Angestellter auf 2000 Euro und weniger Einstellungen im kommenden Jahr.

Generalstreik gegen die unsoziale Sparpolitik
Am 17. Dezember legte ein gegen die Sparpläne gerichteter Generalstreik den griechischen Alltag weitgehend lahm. Aufgerufen zu dem Generalstreik hatten die der Kommunistischen Partei nahestehende Gewerkschaft PAME und die SYRIZA. Da auch der einflussreiche Athener Journalistenverband ESYEA sich anschloss, wurden vorübergehend keine Radio- oder Fernsehnachrichten gesendet. Auch Hafenarbeiter legten die Arbeit nieder. Ärzte traten landesweit in den Ausstand. In Krankenhäusern wurden alle Sprechstunden abgesagt und nur dringende Fälle behandelt. Da aber die von Sozialdemokraten geführten größten Gewerkschaften des Landes, GSEE und Adedy, sich dem Streikaufruf nicht angeschlossen hatten, wird versucht, die Bedeutung des Streikes herunter zu spielen. Selbstverständlich wäre der Streik wirksamer gewesen, hätten auch die großen Gewerkschaften aufgerufen. Aber die in deutschen Medien mehrheitlich vertretene Meinung, dass nur wenige dem Aufruf gefolgt seien, lässt außer Acht, dass es in Griechenland eine hohe Unzufriedenheit mit der politischen Situation gibt und sich die PASOK keineswegs sicher sein kann, auch nur eine „Reform“ ohne den erbitterten Widerstand der sozialen Bewegungen durchsetzen zu können.
Für die radikalen Linken in Griechenland heißt das, dass nun die Zeit ist, soziale Kämpfe mit der Perspektive über den Kapitalismus hinaus zu führen, was auch gerade passiert. Für griechische GenossInnen dürfte das um einiges leichter sein, als hierzulande, denn der Staat ist im Volk extrem unbeliebt, das Vertrauen in die politische Klasse kaum vorhanden. Dennoch muss der Kampf gegen das kapitalistische System, das nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen,  in allen Ländern geführt werden. Auch wenn aus hiesiger Sicht die mutige radikale Linke in Griechenland uns stark und handlungsfähig erscheint, darf nicht vergessen werden, dass der Kampf um Befreiung international ist und wir uns nicht nur in Solidaritätsgesten üben sollten, sondern es die größte solidarische Leistung wäre, hier auch eine gesellschaftlich verankerte Gegenmacht aufzubauen, die den repressiven, kapitalistischen Krisenlösungsstrategien effektiv trotzen kann. Aus den Ereignissen in Griechenland können dabei sicher wertvolle Lehren gezogen werden.

Erschienen in barricada – Januar 2010