Brasilien

In der fast 200 Millionen Menschen zählenden Bevölkerung Brasiliens rumort es gewaltig. Eine Vielzahl von Problemen treibt große Teile der BrasilianerInnen zu Protesten auf die Straße. Die Motive der Protestierenden sind vielseitig. Eine hohe Arbeitslosigkeit, Massenarmut, eine hohe Säuglingssterblichkeit, ein teilweise nicht vorhandenes oder für die überwiegende Mehrheit absolut miserables Gesundheitssystem, ein elitäres Bildungssystem für einige wenige, eine hohe Analphabetismusrate sowie ein völlig von Korruption zerfressenes System sind Punkte, die beispielhaft dafür stehen, was die Menschen in Brasilien wütend macht. In Brasilien leben bereits 86% in den Städten, besonders in den Ballungsräumen São Paulo mit etwa 20 Mio. und Rio mit über 10 Mio. Menschen. Alle vier Jahre werden Präsidentenwahlen abgehalten und es gibt so viele Parteien, dass auch manche politisch engagiert BrasilianerInnen nicht mehr wissen, wie viele es genau sind. Wegen der Korruption wird die Regierung nicht sehr ernst genommen. Mehr als die Hälfte der Senatoren und Abgeordneten sind zum Teil in mehrere strafrechtliche Verfahren verwickelt, aber nur selten wird jemand wegen solchen Delikten verurteilt. Millionenbeträge werden als Schmiergelder gezahlt und die ohnehin schon gut bezahlten Regierungsmitglieder bekommen dadurch weitere Extraeinnahmen, damit bestimmte Firmen im Gegenzug den Zuschlag für Bau- (oder andere) Projekte bekommen. So ist eine Asfaltdecke auf der Straße manchmal nur fünf statt sieben Zentimeter dick, weil die fehlenden zwei Zentimeter in Form von Schmiergeld in andere Taschen gewandert sind. Das staatliche Schulsystem ist unterfinanziert. Die Bildungsqualität ist sehr schwach. Deshalb gehen ab der unteren Mittelschicht die meisten brasilianischen SchülerInnen auf Privatschulen. Beim staatlichen Gesundheitssystem sieht es ähnlich aus. Es ist nicht selten, dass Menschen in der Warteschlange sterben. Deshalb schließt jeder, der es sich leisten kann, eine private Krankenversicherung ab. Eine private Krankenversicherung kostet aber schon mindestens ein Drittel des Mindestlohnes, deshalb können sich dies nur besserbemittelte leisten. Die anderen sind in der staatlichen Krankenversicherung versichert. Trotz des großen Reichtums an Land und Bodenschätzen ist die Verteilung sehr ungerecht und viele Menschen leben in großer Armut. Damit die Mittelschicht ihren Lebenstandart halten kann, bekommen Haushaltsangestellte, Pförtner und Verkäufer meist nur den Mindestlohn. In den Städten reicht dies aber nur, um in den Favelas (Armenvierteln) zu leben. 76,4 % der EinwohnerInnen liegen mit ihrem Einkommen unter der Armutsgrenze. Hunderttausende waren die letzten Wochen in Rio de Janeiro und São Paulo auf der Straße, mehr als eine Million TeilnehmerInnen insgesamt wurden bei Demonstrationen für ein gerechteres Brasilien in etwa hundert Städten im ganzen Land gezählt. An etlichen Orten kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Polizeikräften mit zum Teil bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zahlreichen Verletzten. Schon zu Beginn der Massendemonstrationen konnte sich die Bewegung einen konkreten Erfolg erkämpfen. Die Erhöhungen der Fahrpreise im Nahverkehr, Auslöser der Auflehnung, wurden eilig wieder rückgängig gemacht oder die Tarife sogar gesenkt. Von São Paulo aus hatten sich die Proteste nach schweren Polizeiübergriffen rasant fortgepflanzt und zu einem wahren Volksaufstand ausgeweitet. Die Bewegung für den Nulltarif (Movimento Passe Livre – MPL) und weitere soziale Basisgruppen geben sich mit dem Teilsieg nicht zufrieden. Angeprangert werden Milliardenausgaben und Fehlinvestitionen im Zusammenhang mit der kommenden Fußball-WM und Olympia 2016. Präsidentin Dilma Rousseff kündigte kürzlich aufgrund des enormen Drucks der Straße einen „großen Pakt“ an, um die kritisierten Zustände insbesondere bei öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern. Sie versprach mehr Geld für Bildung, Gesundheit und den öffentlichen Nahverkehr. Doch scheint dies die Gemüter nicht zu beruhigen. Die Linke diskutiert über die Zielsetzung der Bewegung, es gibt erste Spaltungen. Die Sorge nimmt zu, dass der Protest von rechts unterwandert und seine Ausrichtung verdreht wird. Nach dem großen Erfolg, die Regierenden zur Rücknahme der Tariferhöhungen gezwungen zu haben, werde jetzt für den Nulltarif gekämpft. Soziale Bewegungen hatten argumentiert, die Mobilisierung dürfe nicht den Rechten überlassen werden. Erwähnenswert scheint, dass Themen der klassischen sozialen Bewegungen stets in der Minderheit waren. Kaum ein Plakat wandte sich gegen die Zwangsräumungen in Armenvierteln für die WM und die Olympischen Spiele, plädierte für eine Landreform oder unterstützte Indígenas im Kampf gegen Großgrundbesitzer. Die Proteste werden von jungen StudentInnen aus der Mittelschicht getragen, die kaum politisiert sind. Die Protestbewegung hat inzwischen auch Rückhalt bei der rechten Presse. Nachdem insbesondere der dominierende TV-Sender „Globo“ wegen Diskriminierung von Demonstranten kritisiert worden war, änderte das rechte Leitmedium seine Linie. Aus Chaoten wurden über Nacht jetzt demokratische Bürger.

Der Krieg nach innen als Normalzustand in Brasilien!

Kenarik Felippe, Mitglied der nationalen Richtervereinigung für Demokratie (AJD): „Der Staat ist ins organisierte Verbrechen verwickelt. Besonders die Slumbewohner leiden stark unter der Gewalt durch Polizei, paramilitärische Milizen und die Banditenkommandos. Im ganzen Land, und nicht nur in Rio de Janeiro, foltern Staatsangestellte, gibt es Todesschwadrone, zu denen Staatsbeamte gehören. Man redet nur von den kleinen Fischen im Rauschgiftgeschäft, nicht von den Drogenbaronen.“ Der Richter und AJD-Präsident Luis Barros Vidal fordert, die „Farce von Rio“ auf keinen Fall zu unterstützen. „Die Geheimdokumente der Militärs zeigen, dass die Drogenmafia, der Drogenhandel in diesen Slums fortbestehen. Die regierenden Autoritäten, die von einem groß angelegten Krieg gegen die organisierte Kriminalität sprachen, machten also leere, falsche Versprechen, handeln unredlich. Wir sehen die Resultate – Tote und nochmals Tote. Selbst UNO-Friedenstruppen wären erfolglos, weil vordringlich soziale und wirtschaftliche Probleme gelöst werden müssen, die Slumbewohner vor allem feste Arbeitsplätze brauchen.“ Niemand wisse das besser als die brasilianische Regierung, früher unter Lula, jetzt unter Dilma Rousseff. „Todesschwadrone sind derzeit in Rio aktiv – doch auch in Sao Paulo, landesweit, straflos“, fügt Richter Vidal gegenüber dem Blättchen hinzu, in Brasilien fehle eine Kultur der Menschenrechte. Zu erkennen seien „starke Merkmale eines totalitären Staates, der das Gesetz nicht respektiert“; mit Blick auf Fußball-WM und Olympische Spiele am Zuckerhut werde ein Medienspektakel veranstaltet.

Und das hatte es von Anfang an in sich. In brasilianischen Qualitätsmedien, die nur einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung erreichen, hieß es immerhin, die jüngsten Polizei-und Militäroperationen seien nur für das Ausland gedacht – de facto ändere sich nichts. Rio habe wegen der geplanten Sportereignisse international Kompetenz demonstrieren müssen, um Milliardeninvestitionen zu erhalten. Es werde wieder Wahlen geben – und die Politiker würden erneut Gelder des organisierten Verbrechens brauchen.

Rios Polizei und Militär kennen die Favela-Gegend bestens, 2002 wurden zur Besetzung gar 50.000 Mann aufgeboten. Mehr Sicherheit gibt’s deshalb nicht – seit 2007 wurden in Rio über 25.000 Gewalt-Tote gezählt.

Erschienen in barricada – Juli 2013