Bolivien – Teil 2

In der letzten Ausgabe haben wir uns mit der Gründung und dem allmählichen Niedergang des bolivianischen Nationalstaates beschäftigt. Sogar in Landeskunde haben wir uns ein wenig versucht. Hier nun wie versprochen der zweite Teil unseres kleinen Überblicks zur Geschichte Boliviens. Wir beginnen mit:

Oligarchen in der Krise

Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmte eine kleine weiße Oberschicht das politische Leben und die Geschicke des Landes. Die Fraktion der alten Silberoligarchen stellte dabei die konservative Partei, die schnell an Bedeutung, Einfluss und Macht gewinnenden Zinnbarone waren der liberalen Partei verbunden, und schließlich gab es noch eine republikanische Partei, die im wesentlichen ebenfalls der Zinnfraktion zuzuschreiben war, jedoch stärker als die Liberalen auf eine „demokratische“ Modernisierung des Landes setzte. Im übrigen waren die ideologischen Unterschiede zwischen den Oligarchenparteien natürlich marginal.
Obwohl ein Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig war (60% der Bauern teilten sich 0,2% der nutzbaren Fläche, daneben existierte ausgedehnter Großgrundbesitz) spielte der Agrarsektor für den Reichtum der Herrschenden keine wesentliche Rolle. Das Land blieb extrem exportorientiert, gehörte zu den drei größten Zinnproduzenten weltweit, und die gewaltigen Zinnvorkommen waren in der Hand einiger weniger Familien. Während der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise stürzte der Marktwert des Zinns und anderer Rohstoffe dramatisch ab. Das Ausbleiben der Erlöse aus dem Rohstoffexport hatten für alle Klassen und für das bürgerliche Staatsgefüge verhehrende Wirkungen und die sozialen Unruhen nahmen in erheblichem Maße zu. Für derartige Situationen haben die Herrschenden ein altbewährtes Mittel: Sie beginnen mal eben einen Krieg.

Chacokrieg

Den herrschenden Oligarchen war es in den 120 Jahren nach der Gründung des bolivianischen Nationalstaates gelungen, einen bedeutenden Teil des Staatsterritoriums an die Nachbarländer zu verlieren. Nach einem letzten großen militärischen Abenteuer, dem Krieg gegen Paraguay um den Gran Chaco von 1932 bis 1935, hatte Bolivien schließlich weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Ausdehnung von 1825.
Der Chaco ist eine sehr dünn besiedelte Steppen- und Sumpflandschaft, die landwirtschaftlich kaum genutzt werden kann. Der seit Jahrzehnten zwischen Paraguay und Bolivien schwelende Streit um dieses Gebiet verschärfte sich im 20. Jahrhundert aufgrund der nun dort vermuteten Bodenschätze. Paraguay hatte Nutzungsverträge mit einer britischen Erdölgesellschaft abgeschlossen, hinter dem Engagement der Herrschenden in Bolivien standen die Interessen der US-amerikanischen Ölindustrie. Nach drei Jahren Krieg mit mindestens 110.000 Toten und dem 1938 unterschriebenen Friedensvertrag hatte Paraguay sein Staatsgebiet verdoppelt.
Die Niederlage im Chacokrieg und die erneuten gewaltigen Gebietsverluste in der Folge dieses Krieges stellten einen Wendepunkt in der Geschichte Boliviens dar. Die Krise der Oligarchie wurde durch den verlorenen Krieg nun zu einer so tiefgreifenden politischen Krise, dass das politische Gefüge und mit ihm die Parteienlandschaft in Bolivien sich für immer veränderten.
1936 übernahm das Militär die Führung des Landes. Neben einigen anderen populären Maßnahmen nationalisierte die Junta  die US-amerikanische Standard Oil Company. Damit war Bolivien noch vor Mexico das erste Land Lateinamerikas, das (zumindest vorübergehend) die Erdölförderung als Staat in die eigene Hand nahm. Bis 1939 gelang es den Militärs, ihre Linie der populären Sozialreformen und Nationalisierungen fortzusetzen. Dann starb der damalige Regierungschef Oberst Germán Busch unter ungeklärten Umständen. Die Zinnbarone waren wieder am Ruder und kämpften, unter stark veränderten Vorzeichen, noch gut ein Jahrzehnt um die Wiederherstellung der alten Ordnung.

Die bolivianischen Parteien des 20. Jahrhunderts und eine Revolution

Die Zeit der Krise und des Chacokrieges brachte eine Reihe neuer Parteien hervor und ließ die ArbeiterInnenbewegung und den nationalen Gedanken (diesmal unter Einbeziehung der indigenen Bevölkerung) erstarken. Die größeren linken Parteien, der trotzkistische Partido Obrero Revolucionario und der am russischen Sozialismus orientierte Partido de la Izquierda Revolucionaria konnten sich bei Wahlen allerdings nie größere Chancen erhoffen. Die aufstrebenden Mittelschichten sammelten sich in den neu gegründeten Organisationen Movimiento Nacionalista Revolucionario, (sozialreformerisch und eher links ) und der Falange Socialista Boliviana, die stark nationalistisch und eher rechts war. Die aussichtsreichste Kraft unter den neuen Parteien war das MNR, das 1943 bis 1946 im Bündnis mit putschenden linksgerichteten Militärs versuchte, Landreformen, Nationalisierungen, Maßnahmen zur Erringung ökonomischer Unabhängigkeit sowie Bildungsreformen durchzuführen. Nach dem Sturz und der Ermordung des Regierungschefs konnte sich allerdings ein weiteres mal die alte Oligarchie gegen die neuen Kräfte durchsetzen. Doch bei der Wahl 1951 gewann Víctor Paz Estenssoro vom MNR die Wahl zum Präsidenten. Die Herrschenden reagierten mit einem Militärputsch und der Annullierung der Wahlen. Dies bereitete schließlich den Boden für einen Umsturz.
1952 erhoben sich u.a. ein Großteil der ArbeiterInnenbewegung, Teile der Armee und des Mittelstandes sowie StudentInnen gegen das Regime. Der Aufstand führte im April 52 zur Amtseinsetzung des im Vorjahr gewählten MNR-Kandidaten. In den ersten Monaten des neuen Regimes leitete die Regierung, im Zusammenspiel mit Gewerkschaften und Bauernorganisationen teils tiefgreifende Reformen ein. Doch schon bald drohte sich der „gemäßigte“ Flügel des MNR durchzusetzen. Zudem wurde die Regierung von den Aktionen der ArbeiterInnenbewegung nach links gedrängt, während die politisch wichtigen Mittelschichten das MNR nach rechts zerrten und sich zunehmend der  Falange Socialista Boliviana zuwandten. Die ökonomischen Verhältnisse waren aufgrund massiver Kapitalflucht und Sabotagemaßnahmen der Oligarchie bald sehr ungünstig. Die USA setzten in dieser Situation nicht auf einen militärischen Überfall, sondern auf die politische und wirtschaftliche Bekämpfung der Revolution durch wirtschaftliche „Hilfsangebote“, vor allem aber durch bolivianische Kräfte – bis hinein in das MNR. Teilen der MNR-Führung ging die Mobilisierung der Bevölkerung und die Beteiligung sozialer Bewegungen sehr schnell zu weit.
1956 bis 1960 begann Präsident Hernán Siles Suazo mit der planmäßigen Verwässerung der revolutionären Politik. In den folgenden Jahren verlor das regierende MNR einen großen Teil seiner sozialen Basis, inklusive der Gewerkschaften.
Die wirtschaftliche Macht der Zinnbarone war nicht gebrochen worden, daher konnten sie auch in den Zeiten der nationalen antiimperialistischen Revolution bedeutenden Einfluss nehmen. Da der MNR seit seiner Entstehung deutlich antikommunistisch geprägt war, verzichtete Bolivien außerdem auf nützliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Die deutliche Rechtsentwicklung des MNR führte in den 60er Jahren zu Spaltungen und einem weiteren Verfall der Bewegung. 1964 putschte dann erneut das Militär.

Diktaturen, Narco-Faschismus und die Schwierigkeiten der Befreiungsbewegungen.

Es begann für Bolivien eine Periode der durch die USA gestützten Militärdiktaturen, die bis 1982 andauern sollte. Der Regierungschef des ersten Militärregimes, René Barrientos, versuchte allerdings nicht einfach, das Land in die Zeit vor 1952 zurückzuführen, sondern setzte auf eine Allianz mit der Bauernschaft, die immer noch hauptsächlich aus Indigenas bestand. Sehr schnell gerieten aber die Gewerkschaften in blutige Konflikte mit den Militärs. Letztere begingen in den 60ern mehrere Massaker an hunderten von MinenarbeiterInnen und deren Familien.
In den 60er und 70er Jahren entstanden in Bolivien auch mehrere Guerillabewegungen.
Seit Ende 1966 hatte der Revolutionär Ernesto „Che“ Guevara  mit einigen kubanischen Freiwilligen damit begonnen, südlich von Santa Cruz einen bolivianischen Guerillafokus aufzubauen. Die von brutalster Repression betroffene MinenarbeiterInnenbewegung diskutierte zwar eine Unterstützung der Guerilla, die kommunistische Partei Boliviens jedoch versagte die Unterstützung. Viel schwerer jedoch wog die weitgehende Isolation der Guerilla in ihrem Operationsgebiet. Doch all dies ist eine eigene Geschichte …
Das Ende der bolivianischen Expedition Guevaras war bekanntlich die Ermordung des gefangenen Che auf Befehl Barrientos´, mit der Zustimmung der USA.
Nach dem Tod Barrientos 1969 regierte fast ein Jahr lang der linke General Juan José Torres, der von Oberst Hugo Banzer weggeputscht wurde. Letzterer führte von 1971 bis 1978 in Bolivien eine für den Kontinent zu dieser Zeit typischen Militärdiktaturen. Ein dem Weltmarktgeschehen geschuldeter wirtschaftlicher Aufschwung gestattete es Banzer, die Rücksicht auf die Bauern de facto aufzugeben. Der „Pakt zwischen Bauern und Militärs“ war vor dem Hintergrund des brutalen Krieges gegen Campesinobewegungen nur noch eine Floskel.
1978 musste Banzer, innen- und außenpolitisch zu sehr isoliert und auch auf Druck einer immer breiter werdenden Protestbewegung, zurücktreten.
In den folgenden Jahren bis 1982 lösten neun Präsidenten einander ab. Immerhin zwei von ihnen waren verfassungsmäßig gewählt worden. Einer von ihnen, General García Meza, der fast schon offen im Auftrag der Drogenbarone regierte, ließ mit seinen Regierungsmethoden den Begriff des Narco-Faschismus aufkommen. 1981 wurden Mezas Methoden dem Militär zu viel. Er wurde abgesetzt.

Der Neoliberalismus auf dem Vormarsch – und das Ende der neoliberalen Illusion

Gonzalo Sánchez de Lozada, genannt Goni, war langjähriges Mitglied des MNR. Ausgebildet in den USA und dem Neoliberalismus verpflichtet, wurde der Unternehmer in den 80ern und 90ern der wichtigste Akteur bei der Umsetzung des Neoliberalismus in Bolivien. Als Regierungsmitglied, mehrmaliger Präsident und Integrator der neoliberalen Fraktion sorgte er dafür, dass die neoliberale Agenda in Bolivien schneller und konsequenter durchgesetzt wurde als in jedem anderen Land Lateinamerikas. Zügig wurden die staatlichen Unternehmen privatisiert, die Macht der Gewerkschaften gebrochen und der Reichtum des Landes nach oben geleitet. Zwar suchte auch Lozada, sich der Unterstützung der indigenen Bevölkerung zu vergewissern, aber bei Widerstand gegen den neoliberalen Kurs hatte die bäuerliche Bevölkerung mit ähnlichen Repressionen zu rechnen wie vormals unter Banzer. Das Ausbleiben des vom Neoliberalismus versprochenen Wohlstands für alle hatte zudem die sozialen Bewegungen in Bolivien enorm erstarken lassen. Diese Bewegungen sorgten auch dafür, dass Lozada nach seiner Wiederwahl im Jahr 2002 bereits 2003 in die USA fliehen musste. Mittlerweile wird der Komplize Thatchers, Reagans, Blairs und Schröders per Haftbefehl offiziell des Völkermords angeklagt.
Ein Sammelbecken der sozialen Bewegungen und die führende Kraft des Volksaufstandes 2003, das Movimiento al Socialismo, werden wir uns zu Beginn des abschließenden dritten Teils unserer Artikelserie zu Boliven ansehen. Damit hätten wir dann eine ausreichende Grundlage für unser eigentliches Thema: Die aktuelle Entwicklung in Bolivien.

Erschienen in barricada – März 2010