Bildungsstreik.pause.Zeit für eine kritische Reflexion

barricada führte ein Interview mit zwei am Bildungsstreik beteiligten AktivistInnen, um dazu beizutragen, die Geschehnisse der letzten Monate zu resümieren. Dabei kann selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit gewährleistet werden. Ausgangslage des Interviews ist die derzeitige „Winterpause“ der Streikenden an der GSO Hochschule Nürnberg. Nach vielen Wochen voller Aktionen, Proteste und Diskussionen erachten wir es für notwendig, die bisherigen Geschehnisse zu reflektieren und zu diesem Zwecke einzelne politische Meinungen bezüglich des Ablaufs des Protests darzustellen. Interviewt haben wir deshalb Arne der sich als linksradikaler Aktivist an den Aktivitäten teilnahm und Britta von der Revolutionären Organisierten Jugendaktion (ROJA) die als Gruppe an der Vorbereitung des Bildungstreiks und der Besetzung beteiligt war.

barricada: Wie bewertest du zum jetzigen Zeitpunkt den Bildungsstreik in Nürnberg mit der anschließenden Besetzung der GSO Hochschule?

Arne: Wenn ich an die Geschehnisse der letzten Wochen zurück denke habe ich gemischte Gefühle. Zum einen war ich überwältigt von der Partizipation verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen während der großen Auftaktdemonstration am 17. November. Anfänglich hat es mich überrascht wie viel Energie in diesem Protest steckte. SchülerInnen, StudentInnen und Auszubildente setzten sich in einer politischen Aktion direkt für Ihre Interessen und gegen spezifische Missstände in dieser Gesellschaft ein. Darunter befanden sich auch eine Vielzahl von Personen, die man bis Dato nirgendwo hatte antreffen können, wo es um einen politischen Protest ging. Was mir auch unheimlich gut gefallen hat ist, dass dieser Protest nicht wie schon so viele Male zuvor wirkungslos nach Beendigung der Demonstration verpuffte, sondern dass die Protestierenden eben auch bereit waren sich die Räumlichkeiten der Hochschule zu Eigen zu machen um langfristig einen politischen Druck aufzubauen.

Britta: Dazu muss man natürlich auch die Bedingungen näher betrachten. Noch während der heißen Phase der Mobilisierung auf den 17.11.2009 begann, mit dem Startschuss, der aus Wien kam, im gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus, die Besetzungswelle an den Hochschulen. Dies hatte einen ungeahnten Mobilisierungseffekt. Ich denke, dass viele, die vorher unschlüssig waren, eben durch die Aussicht auf konkrete Aktionen, motiviert waren zu kommen. Auch hat sich die Aktionsform des Bildungsstreik über Nürnberg hinaus bereits etabliert. Das Klientel, das bis zum 17.11.2009 schwerpunktmäßig angesprochen und auch erreicht wurde, waren SchülerInnen. Diesmal ist es, wie bereits erwähnt, auch durch direkte Bezugnahme bei den Forderungen und dem Aufruf, gelungen auch Azubis und Studierende mit einzubinden.

barricada: Du hast anfangs von gemischten Gefühlen gesprochen. Würdest du da bitte einmal näher drauf eingehen?

Arne: Wenn ich mir den Verlauf des Protests näher ansehe muss ich als Linksradikaler einige Dinge auch kritisieren. Als erstes ist da zu erwähnen, dass schon relativ bald aus einem breit angelegten Bildungsstreik ein Protest von Studierenden wurde. Damit meine ich, dass es nicht möglich war, auch langfristig SchülerInnen in größerer Zahl oder eben auch Azubis in der Besetzungsphase zu integrieren. Ebenfalls mangelte es, so positiv die anfängliche Beteiligung an der Demonstration auch war, an der praktischen Solidarität von den Studierenden selbst. Meiner Meinung nach wurde anfänglich für einen viel zu langen Zeitraum über gewisse organisatorische Abläufe diskutiert, ohne dabei auch die Möglichkeit zu schaffen, einen breit angelegten gesellschaftpolitischen Diskurs über die Bildungsproblematik zu führen. Diese führte meiner Ansicht nach eben dazu, dass die direkte Beteiligung an der Besetzung abnahm. Es war von Anfang an klar, dass die Besetzung kein Hausprojekt auf Lebenszeit wird und darum auch keine Notwendigkeit besteht, die Diskussionen über das gemeinsame Leben in der FH als oberste Priorität zu sehen. Meiner Ansicht nach wäre es weitaus wichtiger gewesen, im großen Rahmen intensive Diskussionen über politische Verhältnisse zu führen um diesen Streik auch eine politische ideologische Bewusstseinsentwicklung zu ermöglichen, welche unabhängig von den Lernprozessen durch die vielen Plenas stattfinden hätte können. Da dies so nicht stattgefunden hat, entwickelten sich zunächst keine politischen Widersprüche aufgrund heftiger politischer Kontroversen und somit auch kein linksradikaler Standpunkt der allgemein Wahrnehmbar gewesen wäre. Statt dessen fing man sehr bald an sich gegenseitig auf die Füße zu treten, wegen zum Beispiel dem „Hundeproblem“, „Alkoholverbot“ „Bahnhofspublikum“ usw..

Britta: Ich muss für mich selbstkritisch sagen, dass man einen Tümpel von Innen sehr schwer bewerten kann. Man muss erst ans Ufer treten um ihn sich von Außen anzusehen, um dann die Zustände und Entwicklungen reflektiert betrachten zu können. Ich habe einiges im vergangenen Monat mitgetragen, das ich jetzt im Nachhinein als Fehleinschätzung oder Kurzsichtigkeit bemängeln würde. Zu dem spezifischen Studentenprotest, zu dem das Ganze nach einer Zeit mutierte, habe ich eine eher ambivalente Meinung. Ich denke, es war von dem Augenblick der Besetzung einer Hochschule an klar, dass der Adressat eben diese ist und dass das wiederum andere ausgrenzt. Umso beachtlicher habe ich die Solidarität einiger SchülerInnen und Azubis bewertet, die bis zur Pause mitgearbeitet und sich eingebracht haben. Ein anderes richtiges Zeichen haben die SchülerInnen der Leibnitz Schule in Altdorf gesetzt, die ihre eigene Schule über einen kurzen Zeitraum hinweg besetzt haben. So wichtig der vernetzte Kampf und das Bewusstsein über das gemeinsame Interesse ist, so wichtig ist eben auch der konkrete Kampf an der Basis um zur realen Verbesserung der Lebenssituation beizutragen und breitere gesellschaftliche Auseinandersetzungen voranzutreiben. Klar ist aber: Ein System, das SchülerInnen selektiert und zu Leistung und Konkurrenz trimmt, wird das bei anderen nicht einfach sein lassen. Ich denke, das ist den meisten Beteiligten schon bewusst geworden. In wieweit die doch sehr priviligierte gesellschaftliche Stellung von StudentInnen hierbei eine hinderliche Rolle spielt, lässt sich schwer einschätzen.
Natürlich geht es in der gesellschaftlichen Situation, in der wir uns befinden immer zuerst um den eigenen Arsch. Ich denke, dass die Protestbewegungen in Deutschland auch noch nicht so weit sind die vernetzten Interessen klar zu erkennen und sich mit den ihren zu solidarisieren und ihren Gegner, das Kapital und sein Interesse, zu bekämpfen. Ein Klassenbewusstsein im marxistischen Sinne existiert für sich nicht bei der Masse.
Bei vielen Studierenden ist der Bewußtseinsstand schon allein deswegen schwer einzuschätzen, insofern sich die einen zu Recht als zukünftige Lohnabhängige begreifen und die anderen eine steile Karriere durch ihr Studium herbei fantasieren oder sogar wirklich vor sich haben.
Ich sehe eher andere schwerwiegende Kritikpunkte, wie viel zu wenig Außenwirkung, viel zu wenige Aktionen, die „weh tun“ und zu viel verfehlte Diskussionen.

barricada: Wie steht ihr als Linksradikale zu den Forderungen der BesetzerInnen?

Arne: Für mich persönlich waren die Forderungen nicht das Wichtigste. Ich habe die Notwendigkeit nicht gesehen, sich aufgrund des Drucks der Hochschulleitung in einem Ad-hoc-Verfahren dazu hinreißen zu lassen, so schnell wie möglich bestimmte politische Forderungen zu entwickeln.
Wie soll man auch die politische Misere der letzten Jahrzehnte in wenigen Tagen ausbaden. Dies bedarf meiner Meinung nach zunächst einmal einer Gesellschaftsanalyse, intensiver Diskussionen und ein politischer Standpunkt muss herausgearbeitet werden, der sich unter keinen Umständen auf rein reformistische, kurzfristige Ziele beschränken darf. Eben weil Studierende die absolute Mehrheit der Aktiven ausmachten, hätte man sich erst mal über seine eigene Lage klar werden müssen. In welcher Form und Intensität wird man für wen in dem jetzigen Gesellschaftssystem verwertet? Wie privilegiert ist man eigentlich, wenn man im 21. Jahrhundert in Deutschland studieren kann? Wichtig für mich wäre hier eine Chancengleichheitsdiskussion gewesen und nicht das Herausarbeiten von Partikularinteressen ohne eine radikale Gesellschaftskritik. Des Weiteren fehlte mir auch eine klare Gegnerbestimmung. Ein politischer Feind sozusagen. Dieser ist absolut notwendig um politischen Druck aufzubauen und dann eben gezielt diesen Feind mit Aktionen und Kritik zu torpedieren. Mir ging der „Burgfrieden“ mit gewissen gesellschaftspolitischen Gruppen zu weit. Es ist zwar notwendig auch Kräfte wie die Gewerkschaften und die Linkspartei als Unterstützer zu gewinnen. Diese Strategie darf aber niemals meinen ideologischen Standpunkt aufweichen bzw. soweit zurückdrängen, dass meine eigene Position nicht mehr wahrnehmbar ist.
Was ich auch nicht so gelungen fand, war der mangelnde Aktionismus außerhalb der Hochschule. Also jener Aktionismus der für die Öffentlichkeit auch wahrnehmbar ist. Die alte Strategie „Praxis – Theorie – Praxis“ wäre wünschenswert gewesen. Zwar gab es viele kleinere Demonstrationen, kurzzeitige Besetzungen anderer Hochschulen und sogar eine Blockade der Autobahn, jedoch verliefen diese zum großen Teil mit einer sehr geringen Teilnahme. Des Weiteren waren diese auch weniger radikal, als es nötig gewesen wäre, um eine lebendigere öffentliche Diskussion über diesen Prozess hervorzurufen. Die CSU hat den Bildungsstreik fast unbeschadet überstanden, das Rathaus existiert weiterhin als ein Ort wo Menschen über andere Menschen herrschen und die Lokalmedien verfahren weiterhin nach dem Prinzip „Wir berichten inhaltlich nur über Ereignisse auf die wir Lust haben.“ Kurzum: aus einer defensiven Verbarrikadierungstaktik weg, hin zu einer offensiven öffentlichen Konfrontation mit den Verantwortlichen für diese herrschenden Verhältnisse.

Britta: Das ist eben genau das, was ich oben bereits mit den verfehlten Diskussionen angesprochen hatte. Es wurden Forderungen an AdressatInnen, konkret an staatliche Institutionen gestellt, ohne die Rolle des Staates an sich in Frage zu stellen. Das Bildungssystem, das wir jetzt haben, ist nicht das Ergebnis von groben Unfug oder Fehleinschätzungen der Herrschenden, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. Bildung ist nicht mehr als das Ziel unser aller bestmögliche Verwertung für das Kapital zu garantieren. Dass nur wenige gewinnen und viele verlieren ist – wie nur allzu oft beschrien – nicht schlecht für das Kapital, sondern das einzig sinnvolle um eine kleine Elite zu reproduzieren. Mit Begriffen, wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit alleine kommt man nicht weit. Im Kapitalismus ist dem Banker wie auch dem Obdachlosen verboten, unter Brücken zu wohnen. Also, kann immer nur gelten das Problem an der Wurzel zu packen. Das sehe ich als unsere Aufgabe als Linksradikale und ich glaube dass wir das in einzelnen Diskussionen erfolgreich immer und immer wieder einbringen konnten, so dass zumindest der/dem einen oder anderen eine Alternative zur kapitalistischen Logik aufgezeigt werden konnte. Und jetzt muss es um die Nachhaltigkeit eben dieser ersten Schritte gehen…

barricada: Wie geht es nun nach der Pause weiter?

Britta: Das nächste Treffen aller AktivistInnen ist bereits für kurz nach den Ferien angesetzt. In der Hochschule selber wird in den nächsten Monaten eine Diskussion im Senat stattfinden, in dem über die Senkung der Studiengebühren auf 100 Euro abgestimmt werden soll. Das wird auf jeden Fall noch ein wichtiger Mobilisierungspunkt sein. Ansonsten heißt die Parole für die nächsten Monate. Vernetzung! Vernetzung! Vernetzung! Zum einen gilt es, die während der Besetzungsphase kennengelernten AktivistInnen in politische Gruppen zu integrieren, den Kontakt zu den durch die Besetzung entstandenen Arbeitsgruppen aufrechtzuerhalten und auch den Kontakt zu den bereits etablierten Hochschulorganisationen wie ASTA und Fachschaft auszubauen. Dies alles stellt trotz der zahlreichen Kritik eine solide Ausgangslage dar, um den Bildungsprotest 2010 mit einer weitaus größeren Intensität als bisher zurück in die Hörsäle, Klassenzimmer und Ausbildungshallen zu tragen.

Arne: Des Weiteren wäre es wünschenswert wenn sich alle Beteiligten am Bildungsstreik selbst einer kritischen Reflexion unterziehen würden und für sich selbst überlegen, wie sie, auch im Hinblick auf politische Organisierung und Perspektive, den Kampf für eine gerechtere Gesellschaft führen wollen.

Erschienen in barricada – Januar 2010