Identität und Abgrenzung
Der Nationalismus ist Folge ungleicher ökonomischer Prozesse in der weltweiten Geschichte des Kapitalismus.
Trotzdem lässt sich eine psychologische Disposition ausmachen, die zwar nicht ausreicht, um seine Entstehung zu erklären, wohl aber seine Mittel und Wege, um gesellschaftlich Fuß zu fassen. Diese psychologischen und soziologischen Voraussetzungen, an denen der Nationalismus und seine Vertreter ansetzen, prägen die Menschen und die Gesellschaften natürlich z.T. schon bevor es den Nationalismus gab, eben weil dieser in einer ganz bestimmten geschichtlichen Phase entstand und für seine Erfolge spezifische ökonomische Bedingungen notwendig waren.
Psychosoziale Aspekte des deutschen Nationalismus
Die folgenden psychosozialen Aspekte sind also nicht die Ursache des Nationalismus. Sie zeigen nur die grob vorgezeichneten Wege, die er auf seinem Marsch zur Durchsetzung beschreiten kann, die Denkmechanismen und Anschauungen, die ihn auf die eine oder andere Weise fördern, kennzeichnen oder lenken.
Da der Nationalismus jedoch auf unterschiedliche Weise auftritt, abhängig von der speziellen (wirtschaftlichen, kulturellen, politischen, geschichtlichen, etc.) Situation eines Landes, geht es im Folgenden um den Nationalismus Deutschlands.
Obwohl es keinen Archetypus des Nationalismus gibt, gilt für ihn allgemein, was für Deutschland im besonderen gilt – er offenbart sich da am deutlichsten, wo er mit der ungehemmten und größten Kraft auftritt, im Faschismus. Inwieweit die dem Nationalismus zugrunde liegenden psychologischen Voraussetzungen universell gegeben sind, kann hier nicht bewertet werden. Mit Sicherheit lässt sich der befreiende (wie auch immer) Nationalismus kapitalistisch weniger entwickelter Länder nicht mit dem Nationalismus der imperialistischen Metropolen vergleichen, und beide Formen unterscheiden sich wiederum von dem im Faschismus kulminierten Nationalismus Deutschlands und Italiens.
Rassismus als Volkseinheit schaffendes Herrschaftsverhältnis
PsychologInnen, PolitikerInnen und PädagogInnen behaupten, der Ausländerfeindlichkeit liege die Angst vor dem Fremden zugrunde. Sie behaupten damit fälschlicherweise, Ausländerfeindlichkeit heute habe etwas mit den AusländerInnen zu tun. Dagegen zeigt sich, dass Rassismus unabhängig von den Erfahrungen, die InländerInnen mit AusländerInnen machen, existiert. Es gibt keine glaubwürdigen anthropologischen oder psychologischen Beweise für die oft postulierte Furcht vor dem Fremden als Ursache für allgemeinen Rassismus. Diese Angst ist politisch, ökonomisch, sozial oder historisch vermittelt, aber kein Bestandteil menschlicher Psyche. (Im Gegenteil scheint die „Angst vor dem Fremden“ eher eine Angst vor dem Gleichen mit den gleichen Bedürfnissen und Ansprüchen zu sein. Die Aussagen, die RassistInnen in Bezug auf ihre Ausländerfeindlichkeit treffen (Arbeit, Wohnung, Frauen, die Ausländer den Deutschen angeblich wegnehmen) lassen vielmehr auf ein Konkurrenzverhältnis, Hass auf die eigene Lebenslage, Neid und ähnliches schließen.)
Das sich die oft begründete materielle Angst gegen diejenigen richtet, die nicht die Schuldigen sein können, und dass politische und ökonomische Ungleichheit denjenigen angelastet wird, die noch weniger Besitz und Rechte haben, zeigt, dass der Fremde eine konstruierte Funktion hat und dass der Rassismus irrational ist, aber trotzdem funktioniert.
Die politische Funktion liegt im wesentlichen in der Zwangsvereinheitlichung einer von Interessenkonflikten und Klassenwidersprüchen bestimmten Gesellschaft zu einer organischen Einheit und in der Überführung von Klassenkämpfen in Rassenkämpfe. Jedoch auch die historisch ungleiche Entwicklung der kapitalistischen Ökonomien im internationalen Zusammenwirken führte zur Entstehung von Nationalismus und Rassismus. Die Schuldigen für ungleiche materielle Verhältnisse werden dabei jeweils bei den anderen, den Fremden im eigenen Land oder den fremden Nationen und Kulturen gesucht. Diese Denkweise wird zur Weltanschauung. Dabei mag die gegenwärtig oft gestellte Frage, ob der Rassismus von „oben“ oder „unten“ kommt, in mancherlei Hinsicht interessant und nicht einfach zu beantworten sein. Entscheidend ist jedoch die Frage, wem er nutzt und wer die Macht hat, ihn zu aktivieren. Es sind dieselben, die AusländerInnen als ökonomische Reservearmee ausbeuten und Ausländerfeindlichkeit als ideologische Reserve benutzen. Dabei müssen die Herrschenden selbst nicht einmal RassistInnen sein, um rassistische Politik zu machen. Er übt seine gewünschte manipulative Wirkung allerdings bei denjenigen aus, die sich der überlegenen „Rasse“ zugehörig fühlen können.
Die „Rasse“, so die traditionelle Ideologie, ist naturgegeben, sie ist Schicksal und ihre Angehörigen sind Auserwählte. Sie wird über „Herkunft“, also über Blut, Genetik, Heimat und Tradition definiert und impliziert eine natürliche, biologische Rangordnung, bei der es ein „oben“ und „unten“ der Rassen und Geschlechter gibt. Da der Rassismus ein Ein- und Ausgrenzungsprozess ist, aus dem der/die RassistIn seine/ihre Identität gewinnt, ist es für ihn und seine Gemeinschaft geradezu existentiell, dieses Kollektiv nach Außen und Innen zu schützen. Die Hauptgefahr liegt dabei stets in allem, was sich in irgendeiner Weise als Vermischung mit denen fassen lässt, die der/die RassistIn fürchtet. Daher wird der eigene biologischen und kulturellen Überlegenheit die Unvereinbarkeit mit den anderen Menschen und Kulturen als Grundsatz beigefügt. Während die politischen GegnerInnen im eigenen Land wenigstens noch „vom gleichen Blut“ sind und evtl. „umerzogen“ werden können, hat der Fremde keine Chance auf dauerhafte Integration. Letztendlich bleibt er immer der „Angehörige einer fremden Rasse“ und kann dadurch jederzeit zum Feind erklärt werden; er/sie bleibt auf ewig der/die Fremde. Die hierarchisch geordneten Rassenverhältnisse stehen so den ungeordneten der Masse gegenüber, die der/die RassistIn und NationalistIn abwehrt.
Denn in der Masse drückt sich für die Rassisten das Ungeordnete, Aufrührerische, Vermischte, Wechselhafte aus. Zustände also, die es zu besiegen und zu ordnen gilt, in die mensch jedoch nicht selbst hineingezogen werden darf. Die Masse sind für sie die Unteren, mit den Kämpfen der Arbeiter und Arbeiterinnen, mit dem gleichberechtigten Handeln von Frauen und Männern, Einheimischen und Fremden, Kranken und Gesunden. Die Vielschichtigkeit und Flexibilität der Masse wird als Gefahr dargestellt, als das Unberechenbare und damit Unbeherrschbare. Daher muss mensch den propagierten Rassenkampf als Kampf gegen die Massenkämpfe der Unteren und gegen den Geschlechterkampf gerichtet verstehen.
Das in den letzten Jahren der biologistische Rassismus zunehmend kulturhistorisch übersetzt wird (vor allem durch die Neue Rechte), bedeutet natürlich keine Ablösung vom traditionellen Rassismus. Neu ist die Beachtung, dies diese Umformung von Seiten der RassistInnen als auch AntirassistInnen heute erfährt. So hat das von RassistInnen und VerfechterInnen der Multikulturellen Gesellschaft geforderte Recht auf Differenz die Überführung biologischer in kulturelle Verschiedenheit durch die Neue Rechte erheblich erleichtert. (Diese leitet aus der konstatierten Unterschiedlichkeit eine Unvereinbarkeit der Kulturen ab und fordert, wie bei RassistInnen üblich, den Schutz der eigenen vor den fremden Kulturen.)
Die organische Einheit
Nachdem mensch sich also entsprechend gegen die äußeren und inneren Feinde ideologisch erhöht abgesetzt hat, geht es darum, mit den vom Schicksal der Natur Auserwählten eine Einheit zu bilden. Diese ist in ihrer allgemeinsten, ausgedehntesten Form die eigene Kultur, territorial gefasst in der Nation. Mit ihr grenzt sich der/die Einzelne ab und sieht sich als Teil des „Volksganzen“. Nun kann er/sie den angemessenen Platz (am liebsten in Armee, Polizei, Partei oder Verwaltung) einnehmen. Diese Volkseinheit, die im deutschen Nationalsozialismus zu ihrer „Idealform“ gelangte, hat charakteristische Merkmale.
In der Einheit verliert der/die Einzelne seine/ihre Individualität und verschmilzt mit ihr in dem Drang, durch sie Identität zu finden. Seine/Ihre Gefühle vereinigen sich Rauschhaft mit den Emotionen der Volkseinheit und werden von dort bestätigt und verstärkt. Die Einheit soll die eigene und gesellschaftliche Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit überwinden. Die Fähigkeit zur Rationalität, zur Analyse und Reflexion schindet. Dafür machen sich Antiintellektualismus und der Hang zur Mythologisierung und Heroisierung breit. Der/Die Einzelne strebt nicht nach der Wahrheit, sondern reagiert auf emotionale Reize und ist nahezu unbegrenzt manipulierbar.
Der starke Drang zur sofortigen Umsetzung der Ziele ist gepaart mit einem Gefühl der Allmacht und Unbesiegbarkeit. Einher geht damit ein vermindertes Schuldgefühl; niemand fühlt sich für sein/ihre Taten verantwortlich, denn in der autoritär durchorganisierten Gemeinschaft ist für Zweifel und Schuldgefühle kein Platz. Die an die/den EinzelneN delegierte Macht wird in absolutem Gehorsam zur Ausführung der vorgeschriebenen Aufgaben gebraucht. JedeR soll glauben, er/sie befolge nur die Befehle, die von oben gegeben werden, um die oberen wiederum führen nur das aus, was die Natur und das Schicksal vorschreiben. Die Gedanken orientieren sich in derselben Richtung, die hohe Manipulierbarkeit verbindet sich mit einem starken Willen zur Gefolgschaft. Einheit bedeutet nicht Gleichheit, sondern nach dem Führerprinzip hierarchisierte Herrschaft. Die Volksgemeinschaft versucht eine kulturelle und biologische Homogenität zu erreichen, die sie mit Gewalt und Zwang durchsetzt.
Das Ich-Ideal des/der Einzelnen richtet sich nach dem Führer, dem höchsten Repräsentanten des Volkes und der Nation, und nach den unmittelbaren Autoritäten des täglichen Lebens in Familie, Beruf, Armee etc. aus. Das Ich fühlt sich denen zugehörig, die es für seine „natürlichen“ Verbündeten hält: Angehörige seiner Rasse und seines Geschlechts. Grundsätzlich steht das vermeintlich natürlich Gewachsene, Organische, Verwurzelte im Vordergrund; abgelehnt wird, was als entwurzelt, künstlich oder in der „natürlichen“ Ordnung als geringwertig erscheint. Es geht also darum, Einheit zu schaffen, denn das Zerrissene, Unfertige und Wertlose muss bekämpft werden, nur das Ganze ist groß.
Dass muss mensch sowohl auf den Einzelnen beziehen, der erst in Einheit mit Volk, Führer, Armee o.ä. Seine Widersprüche nicht mehr spürt, als auch auf die Ganzheit in Form der Nation, die eine Zerrissenheit, Zersetzung und Vermischung nicht erträgt. Sie bekämpft deshalb die Teilung der Nation (z.B. DDR-BRD) ebenso wie eine Schwächung durch Zersetzung ihrer (Ab-)Wehrkäfte (Armee, Polizei, Justiz) oder die Vermischung durch „Durchrassung“ (Einwanderung).
Tatsächliche gesellschafts- und geschichtsbestimmende Antagonismen, wie Klassenwidersprüche und Geschlechterkampf haben in der organischen Einheit kein Existenzrecht, denn hätten sie es, zerstörten sie die Einheit der Volksgemeinschaft. Klassenkämpfe und Emanzipationsbestrebungen würden das Ganze zwischen unten und oben spalten, die tatsächliche Unterdrückung sichtbar machen und die errichteten Herrschaftsverhältnisse in Frage stellen.
So bekommen die Unteren zur Belohnung für die Gefolgschaft die Zusicherung, Teil des Ganzen zu sein, durch die Gefolgschaft erst der Widersprüchlichkeit und Machtlosigkeit des „Unten“ enthoben zu werden. Als kleines Rädchen im großen Ganzen kann sich dann auch der Beherrschte als Führer beteiligen, denn das abgestufte Führerprinzip lässt den (männlichen) Einzelnen teilhaben an der Herrschaft: als Mann in der Familie, als Lehrer, Hauswart, Polizist, Soldat, Parteifunktionär usw.
Zur Besonderheit des Biologismus im deutschen Nationalismus
Wie bereits oben beschrieben, ist der Rassismus ein besonderes gewichtiger Faktor im deutschen Nationalismus. Ein zweiter wesentlicher Bestandteil bei der Konstruierung der Volkseinheit ist der Biologismus, mit dessen Hilfe nicht nur die rassistische Abgrenzung nach Außen begründet wird, sondern auch die Verbundenheit des eigenen Volkes mit seiner Heimat (im 3. Reich mit der Formel „Blut und Boden“ ausgedrückt). Was sich also zur Abgrenzung nach außen eignet, lässt sich auch zur eigenen Verfestigung im Innern, im eigenen Land gebrauchen. Dabei spielen das Verständnis der Natur und das Verhältnis zur Natur eine zentrale Rolle.
So, wie das deutsche Bürgertum seine Interessen stets nur weltanschaulich verklärte, statt sie materiell zu begreifen und durchzusetzen, wird mit dem Begriff Natur nicht ein nüchterner Faktor im ökonomischen Prozess verbunden, sondern etwas über dem Menschen Stehendes, mystisches. Ihr hat sich der Mensch im Volke unterzuordnen, die Natur gibt ihre Gesetze vor und bestimmt schicksalhaft den Werdegang des Volkes. Dialektisch, ökonomische, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung als geschichtsbildende Prozesse verlieren gemäß dieser Ideologie an Bedeutung. Allein weil sie existierte, rechtfertigt sich Natur als Ordnung und Gesetz schaffend. So muss sich die nach dem Vorbild der Natur konstruierte Gesellschaft nicht für ihre Folgen rechtfertigen und stellt sich im Gegensatz zur rationalen, materialistischen Weltauffassung als unveränderlich und vollkommen dar. Und so, wie die Natur als vollkommene Ganzheit unangreifbar und allmächtig erscheint, so soll auch das durch sie definierte und legitimierte Volk eine natürlich geschlossene Einheit bilden.